Zur�ck
Dein Reich komme
Nur drei Wörter - und ein Horizont wird aufgerissen, an dem wir zu buchstabieren und an dem auszuträumen wir ein Leben lang zu tun haben. Die Christen hatten mal ein starkes Bild vom Reich Gottes: Neuer Himmel, neue Erde (Offenbarung 21,1), ein himmlisches Jerusalem auf dieser Erde und doch ganz neu und anders, ein Paradies am Ziel als gutes, nicht endendes Ende der Geschichte.
Dies künftige vollendete Reich Gottes erwarten zu können war eine Erlösung. Erlösung von der Mülleimer-Theorie: Nur Abfall stehe bevor, nur Verfall, nur Auslöschung am dünnen Ende der Erdenmühsal. Das war ja zur Zeit Jesu die Meinung: Am Anfang sei alles prächtig gewesen, goldenes Zeitalter, Paradies. Aber jetzt: Verfall und Pest, reif für den Abbruch, Rettung weniger Gerechter.
Dagegen setzte Jesus das befreiende �Dein Reich komme�, deine Zukunft, Gott, ist im Kommen und wird uns heilen. Und ein ungeheures Aufatmen geht durch die Menschheit von Jesus her: Nicht kommt Weltuntergang und Abbruch und Schluss mit Rettung der wenigen Auserwählten im siebenten Himmel, sondern Friede auf Erden kommt, Güter die Fülle, Freiheit, Gerechtigkeit, Gottes Staat, die Menschen in Freundschaft einander zugetan. Das soll kommen.
Wie viel revolutionäre Kraft aus dieser Zukunftsvision genommen worden ist, ist unbeschreiblich. Dieser ungeheure Verwandel-Elan aus jüdisch-christlichem Glauben hat eine wissenschaftliche, technische Umwälzung aller Lebensumstände gebracht. Die ganze protestantische Arbeitsethik kommt daher und die Inbrunst der französischen Revolution, der rastlose Forscherdrang und die Industrialisierung, der Wohlstand und auch der schnelle Umbau der Natur in Abfall. Und weil die Kirche die Ungerechtigkeit nicht ausrottete, sondern oft sogar noch bemäntelt hat, wollten die Marxisten in einer gewaltigen Anstrengung die Friedensgesellschaft unter Blut und Tränen aus dem Boden stampfen. Dieser vorerst letzte Versuch, den Himmel auf die Erde zu zwingen, lässt uns wieder fragen, was mit dem Reich Gottes gemeint sein könnte.
Verloren ist uns die Idee von einer Geschichte, die die Menschheit zum Reich Gottes hin erzieht - durch die Generationen automatisch fast -, diese Idee, dass am Ende der Geschichte eine ideale Gesellschaft von Gott ausgebrütet wäre. Die gradlinige Entwicklung auf eine vollkommene Gesellschaft hin ist uns verschüttet angesichts der wachsenden Kompliziertheiten der Menschheit und angesichts von zwölf Jahren Nationalsozialismus, der die Erde in eine Hölle verwandelte und der es vermocht hat, dass das Böse gut genannt wurde. Zwölf Jahre haben gereicht, nochmal zu zeigen, wie der Mensch stündlich bedroht ist, zur Bestie zu werden. Und Max Frisch fragt: �Wie erklärst du dir, dass du noch nicht zum Mörder geworden bist?� So sind wir wohl nicht zu besseren Menschen zu erziehen.
Und ich fabriziere die Verelendung der Erde mit durch meinen Lebensstil und fürchte, dass unsere Kinder auch nicht besser werden, eben schwache Menschen von schwachen Eltern. Also keine Entwicklung auf eine heile Menschheit hin auf dieser Erde, und doch beten wir: Dein Reich komme. Auch sind uns die Vorstellungen verbrannt, dass Gott hinter der uns bekannten Welt noch eine ganz andere in einem Jenseits für uns in petto hätte. Undenkbar, dass diese Wirklichkeit hier nur Kulisse sei für eine schönere, bessere, die schon über uns im Jenseits hängt und nur heruntergelassen werden muss wie im Theater die Kulissen für den nächsten Akt. Blind sind uns auch die Bilder geworden vom ewigen Leben. Abgeblättert die Farben und Formen eines Himmels-Ortes.
Doch eigenartig: Wenn auch ortlose, weiß ich meine Toten, wissen wir unsere Toten im Guten. Wir wissen nicht den Ort, aber wir wissen sie im Heilen. Keine Vorstellungen mehr von Engelkonzerten und nicht enden wollenden Wonnen. Aber doch glauben wir sie als versöhnte, geheilte Seelen, die mit dem Ganzen eins geworden sind, die am Ziel sind. Wir glauben unsere Toten am Ziel jenseits des �dummen Vorbeis� hier. Wir glauben sie in der Liebe.
Wenn Zukunft und Himmel uns auch ortlose geworden sind, so fühlen wir doch, dass unsere Seelen ausgestre4ckt werden auf ein Werdendes hin. Wir sind es noch nicht, wir werden es aber, sagt Luther. Und Max Frisch fragte einmal: �Wenn du einen siehst, der gestorben ist, welche Wünsche sind wichtiger, seine erfüllten oder seine unerfüllten?� Unsern Toten zugute jedenfalls bitten ewig: Dein Reich komme ... Und wer es nicht so benennt, hat doch gespeichert in sich einen Traum weit über das Hiersein hinaus. Was höre ich an Sehnsucht sich bahnbrechen, wenn ich bete: Dein Reich komme?
Predigt aus St. Severin, Keitum; veröffentlicht in: Traugott Giesen - Vater unser in Ewigkeit. Amen - Radius-Verlag, 1993, vergriffen.