Traugott Giesen Kolumne 27.11.1999 aus Hamburger Morgenpost
Denk mal bei einer Kerze
Laß das mal zu, nimm dir das vor, versuch es mal: Im dunkel gewordenen
Zimmer entzünde dir eine Kerze. Eine, und ein Tannenzweig dazu. Und
warte ab.
Schau der Flamme zu. Im Nu vergißt du alles andere, du wirst
zu diesem leuchtenden � ja was denn? � Dom, Kuppel, Hülle. In dir
steht ein Leuchten, darüber ein rundes Spitzes, ein wallendes Energiefeld,
sanft hin und her gewendet von unsichtbarem Strömen. Wie du selbst
auch bewegt durch Einflüsse, aber du bist gehalten, du und der leuchtende
Schein.
Getragen ist die Flamme auf einem Stielchen. Schwarz reckt es sich
aus weißem Nährstoff. Der Docht saugt. Die fliegende Flamme
will gefüttert sein. Unmerklich bröckelt das Schwarze in das
flüssige Wachs. Und immer wieder holt die Kerze dich in ihren Schein.
Als wärest du der Sinn, der Grund für ihr Leuchten. Dann flackert
sie mal, du verstärkst ihr Zittern durch Pusten, willst sehen, ob
die Flamme wegfliegt. Sie scheint sich an den Stiel zu klammern, scheint
sich in Sicherheit bringen zu wollen durch Kleinmachen. Und du läßt
mit deinem Pusten nach. Schon richtet die Flamme sich wieder zu ihrer Schönheit
auf, ist die Ruhe selbst, macht dich still.
Was da brennt ist ein Gas, das durch Brennen gebildet wird. Darum muß
die erste Flamme von außen kommen. Auch das ein Bild für uns,
die wir von außen entzündet, befeuert, begeistert werden müssen.
Erstaunlich auch die verschiedenen Schichten in der Flamme: Ein nichtleuchtender
Kern, der leuchtende Kern und ein schwach leuchtender heißer Außenmantel.
Diese Schichten erinnern, wenn ich lange hinschaue, daß ich selbst
mir auch geschichtet vorkomme. Ich habe auch heiß und kalt bei mir,
ich habe abgestufte Wünsche und Zwänge.
Das Licht ist natürlich das Glück der Kerze. Dies sanfte,
gelbe Leuchten ist eine Sonne in klein. Du kannst dich nicht satt dran
sehen. Es macht in dir selber hell. Du wirst dir selber sonnenhaft.
Daß es Gottes erstes Wort gewesen sein soll � dies: �Es werde
Licht� � es leuchtet dir ein, beim Verweilen vor der Kerze. Denn Licht
stellt dir die Sachen dar, die mit dir im Raum sind. Hinter den Sachen
ist Schattenland bis hin zu Finsternis, einfach Mangel an Licht.
Im Kerzenschein, wenn du noch verweilst, taucht auch dein eigenes Licht-
und Schattendasein auf. Es soll was an uns Licht geben; das ist so dringend.
Daß wir auch Schatten werfen, damit kommt das Leben zurecht. Hauptsache,
wir geben unsere Energien aus, daß durch uns Licht werde, Zuversicht
und Zusammenhalt.
Erster Advent ist ein Anfang. �Gott, das Licht aller Dinge� (L. da
Vinci) gehe dir auf und befeuere deine Lebensflamme.