Traugott Giesen Kolumne 27.02.1999 aus Hamburger Morgenpost
Leben ist gefährlich � Leben ist Gnade
Wenn in fünf Tagen 280 cm Schnee fallen, ist jeder Abhang eine
mögliche Rampe in den Tod. Wenn die weißen Massen doppelt dem
Menschen über den Kopf wachsen, müßten sie doch alle fliehen
vor dieser weißen Sintflut.
Aber keiner ist sich einer Schuld bewußt. Jeder fragt, wenn überhaupt:
warum soll es mich treffen, gerade mich, wo ich doch nur einer von 3000
Touris bin, hier. Und die Einheimischen machen gute Miene, sie müßten
uns doch des Ortes verweisen, müßten ihre Häuser verlassen,
das Dorf aufgeben. Aber alles geht weiter. Die Schneeüberstände
drohen gewaltig, die Lawinen grollen in der Ferne, aber schon ist es dunkel
� und morgen ist ein neuer Tag. Es muß doch weitergehen, das Unmögliche
darf nicht sein, und weil es nicht sein darf, kann es nicht sein. Es müßten
schon Jahrhundert-Ereignisse eintreten, aber warum hier, warum bei uns,
wir sind nicht besser, nicht schlechter, es muß doch eine Gerechtigkeit
geben.
�Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß jeder Mensch sein Leben hat�
� das haben unsere Großmütter noch gesungen, und unsere Großväter
haben Krieg gemacht in der Gewißheit, daß jedem seine Zeit
zugemessen sei, ob man im Bett bleibe oder Chaos anrichte. Und denkt Michael
Schumacher nicht auch so und all die Verwegenen, die riskant leben � ob
per Auto oder Schuldenmachen oder Extremklettern? Und wir alle leben letztlich
doch aus einem anonymen Vertrauen, glauben nicht an frühen Tod, setzen
auf Glück. Und es hat sich doch bewährt, jedenfalls für
dich. Wie oft warst du in Lebensgefahr und bist als Kind nicht erstickt,
nicht ertrunken, überfahren. Als Jugendlicher, wie oft bist du gestürzt
und nicht totgeblieben, in den Jahren dann der Stromschlag, der Schlaganfall,
der Virus, der überstandene Straßengang � und immer wieder das
heile Nachhausekommen.
Unendlich mehr Bewahrung ist in der Welt als Ausrottung, unermeßlich
viel Schutz ist bei allen Katastrophen, wieviel Vernunft und Hilfsbereitschaft,
wieviel Medizin und tröstendes Gespräch ist in der Welt. Wievielen
wurde der Sack der Trauer ausgezogen, und sie sind wieder fröhlich?
Mein, dein Leben-dürfen ist das Wunder.
Daß es uns gibt, dich, mich, unsere Eltern, Großeltern
gab, daß jeder sein Ich, seine Begabung, seine Lust, seine Mühe
und seine Zeit hat, ist das unermeßlich Große. Schmerz und
Mitweinen und Trauer und Wehmut für unsere Mitmenschen, denen in Galtür
und anderswo ihre Zeit ausging. Und die ihren Lieben so entsetzlich fehlen.
Aber keine Allmacht hat gerade sie unter die Lawine geschickt, keine konnte
sie retten. Zeit ist Frist � ist gewährt und nicht selbst produziert,
ist eingeräumt, wenn auch nicht im voraus portioniert. Der Zeit-Raum
für alles � nenn es Gott oder beschweige es � ist und bleibt. Ihm
entfallen wir nicht, auch wenn uns die Erdenzeit stehenbleibt.
Also brutto wohl doch alles Schicksal.