Traugott Giesen Kolumne aus Hamburger Morgenpost 24.10.1998
Starte mit Gebet, Kanzler
Gleich, geehrter Gerhard Schröder, werden Sie zum Kanzler gewählt
und vereidigt. Sie werden Hochwichtiges gefragt. Etwa, ob Sie nach bestem
Wissen und Gewissen die Verfassung der Bundesrepublik achten werden und
Ihr Amt zum Wohle der Deutschen und aller Menschen ausüben wollen
und dem Frieden dienen werden. Und Sie werden �Ja� sagen. Und bitte, sagen
Sie auch: �Ja, so wahr mir Gott helfe.�
Sie bekommen ein so schweres Amt auf, daß Sie alle �guten Mächte�
auf Ihrer Seite brauchen. Sie werden einen wesentlichen Ausschnitt der
Wirklichkeit entscheidend mitgestalten. Da ist zu wissen nötig, was
Jesus dem Pilatus steckte: �Du hättest keine Macht, wenn sie dir nicht
von Oben anvertraut wäre.� Dies kann eine innere Distanz besorgen,
daß die Macht einem nicht zu Kopfe steigt. Sie scheinen auf gutem
Weg, legen eine frisch-fröhliche Macher-Gelassenheit an den Tag; in
Ihr Talent zum Aufdrehen mischt sich manchmal sehr wohltuend ein Quentchen
Demut ein. Das macht Mut, Ihnen zu vertrauen � etwa, daß Sie Ihren
Beruf nehmen als Berufung durch die Letzte Instanz. Und darum werden/bleiben
sie hellhörig auf die Stimmen derer am Rande, der Opfer, der Entehrten
und Überstimmten.
Aus armen Verhältnissen sind Sie erhoben worden in den Kreis der
Mächtigen dieser Erde. Nicht zu vergessen den Geschmack des Verachteten,
und �höflich zu bleiben zum Menschen, nicht zum Geld� (M. Frisch)
� das wäre stark. Die Leidenschaft fürs Erbarmen, für Willy
Brandts "Compassion", möge bei Ihnen bleiben. Bitte setzen Sie darauf,
daß Enthusiasmus für Zusammenleben Sie beflügelt � (�Enthusiasmus�
heißt auf deutsch �Gott in dir�). Und ich wünsche Ihnen etwas
von der protestantischen Gewißheit: �Tu tapfer Gutes, Dein unverzichtbares
Quantum Böses tu auch, aber um so tapferer glaub an Vergebung und
Neuanfang.�
Sie haben schon Aufbruch gebracht, mehr Gleichberechtigung der Geschlechter,
den klaren Willen zum Atomausstieg, mehr Rücksicht auf die Menschenrechte,
wollen mehr Tierschutz, eine soziale Grundsicherung, mehr Fürsorge
für Kinder, ein faires Staatsbürgerschaftsrecht. Bitte behalten
Sie Elan mit Ihrer Regierung. Trauen Sie sich zu, uns allen Helfendes abzuverlangen.
Und setzen Sie darauf, daß Gott ist. Und daß der Zeitgeber,
das Herz aller Dinge, der Freund des Lebens, Betreiber von uns allen Sie
mittels Volkes Stimme in dieses Amt gehoben hat. Und daß letztlich
Sie ihm verantwortlich sind wie alle andern auch. Ein Zeichen für
diesen Vorbehalt wäre das �So wahr mir Gott helfe.� Sie gäben
zu erkennen Ihr Wissen: Ich bin angewiesen auf heiligen Geist und günstige
Rahmenbedingungen und Bewahrung vor Hybris. Gott segne Ihr Tun und Lassen.