Traugott Giesen Kolumne 26.09.1998 aus Hamburger Morgenpost
Wählen ist Christenpflicht
Dank an alle, die sich politisch engagieren: Ob auf Dorfebene, wo man
die Feste plant und die Sanierung des Schwimmbades � oder ob auf Landesebene,
wo man entscheidet, ob mehr Lehrer oder mehr Polizei oder mehr Gefängnispersonal
eingestellt wird � oder ob auf Bundesebene, wo man die Steuern beschließt
und den Beitritt zu Europa. � Es ist ein hohes Maß gelebter Nächstenliebe,
ein öffentliches Amt zu bekleiden. Meist fällt man nur auf, wenn
man was ans Zeug geflickt bekommt. Und im Rampenlicht stehen vielleicht
drei Dutzend. Aber dreißigtausend oder hunderttausend oder werweiß
wieviele tun ihren Dienst, weil er getan werden muß, fertig.
Ja, Macht muß genutzt werden. Und es ist zwingend unsere Aufgabe,
daß wir geistvolle Menschen an die Macht bringen. Die Natur, die
Umwelt und die menschlichen Beziehungen müssen auf einander abgestimmt
werden. Eins soll nicht vom andern Lebensmacht stehlen, sondern Austausch
soll gelingen, der allen Feldern förderlich ist. Wie verteilen wir
die Gaben und die Lasten? Wie motivieren wir zu arbeiten? Wie stutzen wir
Vorrechte zurück und fördern zugleich das Recht auf Eigentum?
Es gilt, die Handlungsfreiheit zu erweitern und genügend Schlichtwohnungen
für Obdachlose zu erstellen.
Politik muß nicht Menschen glücklich machen, aber muß
Leid verringern, Hunger verhindern, Lernen fördern, muß von
drei oder vier deprimierenden Alternativen die am wenigsten schädliche
durchsetzen. Und sie muß sich selbst bescheiden. Die Regierenden
brauchen große Kraft, ihre Ohnmacht zu ertragen und die millimeterschmale
Besserung zu betreiben. Es kommt nicht darauf an, recht zu haben, sondern
für seine hart erarbeitete Erkenntnis die Mehrheit zu gewinnen. Dauernd
muß man überzeugen, freundlich sein, beherrscht, wissend und
noch witzig dazu. Dauernd wird man beäugt, ausgefragt, kontrolliert,
muß auch unterhaltend sein. Wer die hohen öffentlichen Ämter
anstrebt, muß Gottvertrauen haben, also ganz im Innersten wissen,
daß er Gottes Mitarbeiter ist. Kritik wird ihn nicht umblasen aber
hellhörig wird er sein in Gewissensdingen. Nicht eine gute Presse
sondern die Opfer der staatlichen Maßnahmen seien seine erste Sorge.
Er wird sich hüten vor Wahndenken, daß er der einzig Wahre sei.
Vor allem dies könnte es nahelegen, Kohls Regierungszeit nicht
zu verlängern. Der Wechsel der Regierenden von Zeit zu Zeit ist demokratisches
Muß. Doch ob Instinkt und eigenes Fühlen den Herausforderer
und seine Mannschaft mag, das muß jeder, jede selbst ausloten. Wichtig
ist zu wählen. Ob Regierende oder Opposition � sie haben das Recht
zu wissen, daß sie von (fast) uns allen gewollt sind.