Traugott Giesen Kolumne 09.08.1997 aus Hamburger Morgenpost
Kontrolle und Vertrauen
Was meßbar, zählbar ist, ist auch kontrollierbar. Viele Tests
und Probeläufe stehen an vor jedem Flugzeugstart. Material und Personal
müssen ihre Tauglichkeit beweisen. Medizin, bevor sie verkauft werden
darf, muß auf Nebenwirkungen hin untersucht sein, viele Male. Geld
an der Kasse sollte man mitzählen, das ist zur Sicherheit von beiden
Seiten.
Ein anderes ist der Raum der Liebe. Da herrschen Treu und Glauben, also
Treue aus Glauben. Wir müssen einander für Liebe gelten lassen
Kuß und Mühe, Freudenaugen, Worte, Taten � oder sie sind hinfällig,
sind verfallen, zählen nicht mehr. Wer Treue überwacht, der hat
schon die Liebe verraten. Wer das Gewissen des andern beherrschen will,
der will nicht vertrauen sondern besitzen.
Wo wir mit fremder Sicherheit, mit anderer Leute Geld umgehen, ist Kontrolle
nötig; wir sollten da Revision geradezu anfordern � schon um uns selbst
in Schutz zu nehmen. Aber wenn wir Kindern eine Falle stellen, ob sie nicht
stehlen, wenn wir uns auf die Lauer legen und lauschen oder Post heimlich
öffnen, dann wollen wir lieber täuschen als enttäuscht werden.
Und das ist schon jenseits der Liebe.
Wir brauchen Sympathie unter die Flügel, wir brauchen den Aufwind
der Zuneigung, das Wohlwollen unseres Nächsten. Selbst im Examen brauchen
wir Prüfende, die von unserm Wissen erstmal überzeugt sind, die
uns erst mal den Vorschuß geben, genügend gelernt zu haben;
uns also die Chance geben, zu zeigen, was wir können. Auch vor Gericht
brauchen wir den Richter, der von unserer Unschuld ausgeht, bis er eines
schlechteren belehrt wird. Immer muß uns Schuld bewiesen werden,
nicht müssen wir unsere Unschuld beweisen. Das ist die große
gemeinsame Absprache: Wir sind bis zum Erweis des Gegenteils des Vertrauens
wert. Es ist die hohe Schule der Menschlichkeit, Vertrauen anzubieten,
Vorschuß zu geben, als Erster abzurüsten, um Verzeihung zu bitten,
als erster wieder einzuladen. Das stiftet Frieden. Die Kraft dazu ist Glaube
aus tiefen Quellen: Du selbst bist ein Vertrauensprojekt des Lebens, du
selbst ein Wagnis der Schöpfung, du mit Gaben und Kräften ausgestattet,
obwohl dein Schöpfer vorher deine Tauglichkeit nicht kontrolliert
hat. Und was bekommen wir täglich neue Energie, es wieder noch mal
neu gut zu machen. Wir Menschen lügen manchmal, weil wir so viel Zuneigung
brauchen. Dieses Bedürftigsein leben können ohne Lüge ist
wohl Glück.
Ich wünsch mir heute wenig Mißtrauen. Ich will einfach den
neben mir für vertrauenswürdig halten, will das ihm zeigen. Auch
damit er sich nicht mit Argwohn wappne, nicht jedes Wort auf die Goldwaage
legt, nicht mich verhört, sondern wir hören und reden und bauen
Gemeinsames. Dazu brauchen wir Vertrauen: �Anfangs ist es ein Punkt, der
leise zum Kreis sich öffnet, aber wachsend umfaßt er am Ende
die Welt� (Adorno). Und Du hilf auch dazu.