Kolumne 5. Juli 2003 -
Wo man Bäume nicht achtet, haben Alte nichts zu lachen
Traugott Giesen Kolumne 05.07.2003 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Wo man Bäume nicht achtet, haben Alte nichts zu lachen
Male doch mal dich als Baum. Dann kannst du viel erzählt bekommen von
dir. Sind deine Wurzeln tief gegründet, ist deine Schale rau, hast du
ausladende Äste, kann man bei dir nisten, bietest du Früchte oder
fällt bei dir jede Menge Brennholz, also Wärmendes ab? Bietest
du Schutz oder lehnst du dich gern an - oder beides? Hast du schon Äste
verloren, wuchs dir nach Verlusten eine neue Mitte? Siehst du dich in voller
Blüte oder ist dir die Axt schon an die Wurzel gelegt? Siehst du dich
als Kirschbaum, gar als Zierkirsche oder als Pappel oder als Eiche an der
sich Manches reiben kann oder als Strandkiefer, die harte Winde aushält?
Sicher hast du deinen Baum, an dem du oft gelehnt hast oder dem du die Initialen
deiner Liebe einritztest oder den du pflanztest zu deiner Hochzeit oder zur
Taufe eures ersten Enkels. Sicher hast du einen Baum, über dessen Tun
und Lassen in den Jahreszeiten du genau auf dem Laufenden bist, sein
Gegenüber ist dir unerschöpflich? An ihm bemerkst du schon im Herbst
die ausgebildeten Knospen, bei aller Kahlheit im Winter die Sprosse des Neuen,
aber auch die ersten gilbenden Blätter im hohen Sommer.
Wir haben ein verwandtschaftliches Verhältnis zu Bäumen. Wo sie
gedeihen, tun wir es auch, wo sie fehlen, hat der Mensch es auch herb. Wo
man Bäume nicht achtet, haben auch Alte nichts zu lachen - kann das
sein? Bäume haben auch Persönlichkeit. Brummen nicht die Bäume
im Winter? "Sie seufzen und ächzen wie Greise, die mit jedem Atemzug
aufs neue gewahr werden, dass Leben eine beschwerliche Arbeit ist" (M. Sperber).
Und zum Wald der Kindheit treibt es einen immer zurück. Bäume leiden
an Schmutz aus der Luft wie wir, die Kronen bröckeln, Spieße staken,
Bäume und Menschen versauern. Die Blätter der Bäume lassen
uns atmen, das wunderbar vielfältige Grün steht für Hoffnung.
Ihr Wachsen ist das Gleichnis für Gelingen im Wandel und Werden. Eine
besondere Begabung lässt ihre Wurzeln Wasser ahnen, und sie recken sich
ihm entgegen.
"Wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein
Apfelbäumchen pflanzen", sagte Luther, und gern wird es zitiert als
Mutmachwort gegen Verzweiflung. Schon richtig: Wir leben alle von den
Bäumen, die andere vor uns gepflanzt haben. Ein Walnussbaum beginnt
erst zwanzigjährig zu tragen. Aber auch, wenn gar kein Mensch ernten
könnte, ist das reine Pflanzen, das Lebenstiften das einzig Wahre.
Bäume ermutigen, durchzuhalten und auf Zukunft zu setzen. Ihr Rauschen
schafft eine Ordnung des Friedens. Und Apfel- und Birnbäume auf
Friedhöfen scheinen fröhliche Bürgen von Auferstehungshoffnung.
"Geh aus mein Herz und suche Freud", heißt das wohl schönste
Sommerlied und die 14. Strophe: "(Gott) Mach in mir deinem Geist Raum, dass
ich dir wird ein guter Baum und laß mich Wurzel treiben. Verleihe,
dass zu deinem Ruhm ich deines Gartens schöne Blum und Pflanze möge
bleiben."