Traugott Giesen Kolumne 20.04.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Gib deiner Seele Recht
Auch du hast eine Seele, eine Wärmequelle,
die dich betreibt und bewacht. Sie ist aber so diskret, dass sie dich nicht
zwingt. Du kannst sie überfahren, überhören, mundtot machen,
oder du kannst sie hüten und nah an dein Ich halten.
Deine Seele ist dein inneres Wissen, mit dem
du ins Leben gerufen wurdest, die Hintergrundstrahlung deiner himmlischen
Herkunft. Sie kann dir beschädigt werden, aber sie bleibt dir. Sie ist
das Wunschradar in dir, das einen feinen Leitstrahl dir vorhält von
dem, was schön und gut ist. Sie lotst dich ins Lieben und in die Freude,
sie macht dich empfänglich für Musik und Worte, die Lebensbrot
sind. Sie tränkt dich mit Sehnsucht, zu einem guten Ganzen zu gehören.
Sie stiftet an, dass du dich verknüpfst mit einem Wesen, ein Herz und
eine Seele mit ihm wirst. Allerdings sehr vorläufig und übungshalber,
denn die Seele hat hier keine bleibende Stadt, sondern sucht ihre
zukünftige. Die Seele ist "Gottes Atem in allem Fleisch", die
unauslöschliche Widmung dessen, der dich ins Leben schickte und wieder
heimholen wird.
Unsere Seele gibt an deine, meine Person die
Kraft, "ich" und "ich will" zu sagen, sie speist unser Ich mit der
Fähigkeit, die Ereignisse sich anzueignen, möglichtst wie es dir
selber gefällt. Sie hilft deinem Ich, die Wirklichkeit zu bestehen.
Erziehung kann deine Seele weiten und
schmücken, aber auch sie verhärten. Sie kann dann neu erweicht
werden durch Heimaterfahrung - ganz von weitem erinnert dich das Aufscheinen
eines Augenpaares oder ein Gedicht oder der Anruf einer alten Freundschaft
an deine Herkunft, an deine Kindheit - da war deine Seele glücksfähig
und freiheitsdurstig. Wenn du auch meinst, vom Leben gierig nehmen zu
müssen, wenn du mit Rasierklingen unter den Armen dich durchsetzt, auf
einmal wirst du deiner Seele gewahr, wie sie Halt schreit, und fragt: Willst
du der überhaupt sein, den du rücksichtslos darstellst? Und wo
ist dein Bruder, deine Schwester? Wem bist du Hüter und Freund? In dir
bleibt ein Flüstern wie vom anderen Stern.
Im Traum stößt deine Seele ein besseres
Wissen von dir ins Halbbewusste. Du entrinnst gerade noch einer Katastrophe,
wagst, eine Schuld einzugestehen und erfährst Vergebung, dir werden
die Augen geöffnet über dich und du schrickst zurück, eine
helle Person zeigt dir einen anderen Weg. Wie nebenbei rettest du ein Kind
und staunst über dich.
Die seelischen Energien wirken noch anders auf
dich ein. Es ist in dir ein Ziehen, ein sanfter Sog weg von der Verzweiflung.
Dieser Sog bleibt unterschwellig, bis du ihn brauchst. Dann ist er da und
speist dir Zuversicht ins Ich.
Aber fördere deine Seele. "Tu deinem Leib
Gutes", sagte etwa die Heilige Theresa, "damit deine Seele gerne in ihm wohnt."
Vor allem Kinder lass nicht seelisch unterernährt. Schenk ihnen Zeit,
pflanz mit ihnen Bäume, lies mit ihnen viele Bücher, zeig ihnen
die bunte Welt und hilf, dass ihre Seele sich hier gut auskennt!