Traugott Giesen Kolumne 29.12.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Sicher dir dein Jahr
Ein Baum legt Zweige zu und einen Jahresring.
Auch uns kerbt die Zeit, wir legten zu, wohl auch an Gewicht. Aber wichtiger
ist unsere Beute an Erfahrung. Wir sind ein Jahr mehr wir selbst geworden.
Misstrauischer oder zuversichtlicher, ängstlicher oder sorgloser,
ärmer, reicher, wieso? Was gewannen wir an Wissen? Was können wir
besser? Welcher Schaden nimmt uns mit? Auch wenn wir nicht weiter nachdenken,
arbeitet das Erlebte in uns. Unser Bauch registriert alles. Und haben wir
uns in einem Menschen geirrt, werden Alarmlichter flackern, wie von selbst,
wenn ähnliche Züge uns wieder begegnen.
Und doch sollten wir hellhörig das Jahr
gehen lassen. Sollten uns merken, was uns geschah. Und was wir anrichteten.
Schon viel zuviel verweht im Vergessensfluss. Nur was wir erinnern, können
wir auch bewerten, vertiefen, genießen und mal meiden.
In diesem Jahr haben wir viel Gemeinsames erlebt
und annähernd ähnliche Ohnmacht empfunden. BSE, der 11. September,
Afghanistan. Anderes haben Schicksalsgenossen geteilt: Arbeitslos sein,
Krankheit, Steckenbleiben im Schnee. Und der in gleicher Lage, war der
Allernächste geworden, sehr verwandt. Erinnere dich an wichtige Situationen,
erzähle sie dir, empfinde ihren Ernst heraus, ihren Schmerz, ihr
Glück. Es war doch nicht umsonst, dieses, dein ganzes Jahr, der Schatz
deiner Gefühle hat doch hinzugewonnen. Du hast geliebt, wurdest geliebt;
ein Bild, eine Geste, ein Wort, eine Geschichte lass dir auferstehen, rahm
sie dir ein die eine Frage oder das eine Geschenk, verwahr den Blick.
Und du hast gearbeitet. Das hat dich ernährt
und andere. Und was sonst? Wem warst du nötig? Du warst Ungezählten
nötig, aber einen nenn dir mit Namen, erinnere seine Anerkennung. Einem
hast du besonders was zu verdanken. Merk das, es hat dich doch gestärkt.
Du bist wahrgenommen worden, ihm bist du wer. Vielleicht hast du Lust, noch
mal darauf zu sprechen zu kommen. Du hast einen Schmerz gehabt, du bist
verwundet. Der Verlust wiegt schwer. "Manchmal leuchtet die Erinnerung. Manchmal
ist sie bleierne Nacht. Es muss einer sehr alt werden, bis auch die bleierne
Nacht leuchtet", sagt Elias Canetti. Bist du im Blick auf deinen Schmerz
älter geworden? Deine Trauer, ist sie noch schwarz oder schimmert sie
an den Rändern schon violett, hat sie einen Hauch Licht bei sich?
Und die zufriedenen Phasen? Ein Jahr lang Auskommen
und Zurechtgekommensein. Hinreichende Gesundheit, viel Gelungenes. Ja, was
ist dir gelungen, nimm doch nicht alles so banal, selbstverständlich.
Wie viel Bewahrung, Aufmerksamkeit, Pflichtbewusstsein, wie viel Beistehen
geschahen dir. Wie viel Menschen haben für dich sich gemüht, und
wie viel Tiere dazu?
Und wie viel Freude hast du gespürt, wie
viele Male herzlich gelacht? Dich gut unterhalten? Viel "Gott sei Dank"
fürs Jahr ist fällig. Und hab Lust auf ein neues Fuder Zeit. Frag
an beim Herrn der Zeit.