Traugott Giesen Kolumne 13.10.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Dank für Bücher
Jetzt treffen sie sich wieder, die Macher rund
ums Buch. Hunderttausend Neuerscheinungen werden ins Licht gerückt.
Hoffentlich kommen wir dazu, uns einige anzueignen. Lesen ist lebenswichtig.
Lesen sammelt Gedanken ein. Wir lesen Spuren von Wegen anderer Leute, ein
Quäntchen Glück zu erringen. Wir nehmen an deren Mühen teil,
ohne mit eigenem Blut zu bezahlen. Lesend lebe ich andere Leben mit, umarme
mit, spinne Ränke mit, morde mit und werde entlarvt. Lesend erwecke
ich erfundene Gestalten zu Gefährten auf Zeit, kann sie dann
zurückstellen ins Regal und sie wiederbeleben, wann ich will.
Ob sie beim zweiten Wiederfühlen noch so
spannend sind, ist allerdings die Frage. Denn ich bin mit der Zeit ein anderer
geworden; ob dann mein Held des frühen Lesens mir noch was sagt, ist
offen. Geschichten bilden den Kompost, dass meine Fantasie erblühe;
vorausgesetzt, ich und das Buch haben ein ähnliches Milieu. Aber auch
das Fremde kann uns locken, wenn die Angst, mich zu verlieren, gebannt bleibt
durch Ich-Gewissheit. Die muss der Held des Lesestoffs stärken, dann
kann er uns durch manche Höllen mitreißen.
Lesend erkunde ich, was zu kennen wert ist.
Lesend versteht man, was war und werden könnte. Lernt man aus Geschichte,
müssen wir manche Fehler nicht mehr wiederholen. Viel wert jedenfalls
ist, die Gegenwart richtig einzuschätzen; dann kann ich als Zeitgenosse
fürs Eigene besser navigieren. Für sich allein besitzt man doch
wenig Welt; lesend gewinne ich Überblick und Sprache, die
Glückseligkeit und Schrecken Namen gibt. Lausche ich den Erzählungen
anderer, dann nehme ich an ihnen teil und wage selbst, wenn nicht zu schreiben,
so doch von mir zu anderen zu sprechen. Denn wenn anderer Menschen Leben
so wichtig ist, dass ich es kennen will, dann ist mein Eigenes auch nicht
Nichts - es zählt, es gibt was zu erzählen, auch von mir. Schreiben
und Lesen ist Teilgeben und Teilnehmen - weitreichend bin ich verbunden.
Und darin steckt die Kraft der guten Bücher: Sie locken uns in
Menschenrollen, die wir uns anprobieren; und wir spüren, wir sind
mitgetroffen in der Darstellung des Trottels und des Begehrten, der Heiligen
und der Lügnerin, der Opfer und Täter; und erschauern, wie einer
was vom andern hat. Wir sind viel mehr, als wir realisieren. Lesend entfalten
wir mehrere Leben. Viel von mir selbst kann mir aufgehen im Lesen; ein Buch
kann zur Schaufel werden, mit der ich mich selber umgrabe (Martin
Walser).
Wir reagieren auf die Anforderungen von jetzt
mit dem bewährten Wissen, dem Gewussten. Aber um Entwicklung bei uns
zuzulassen, müssen wir auf neue Gedanken kommen, dazu müssen wir
Kunde mitbekommen von anderen Lebenskundigen, müssen deren Wissens-
und Gefühlsspeicher anzapfen. Dank allen rund ums Buch; Dank allen,
die unsere Sehnsucht, unsere Lust auf neues Wissen und unsere
Ergänzungsfreude neu beatmen.