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Traugott Giesen Kolumne 08.09.2001 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

Anspruch und Verpflichtung

Wenn wir geben, erwerben wir einen Anspruch. Wenn wir nehmen, gehen wir Verpflichtungen ein. Du kannst machen, was du willst, du sammelst Pluspunkte beim Schenken. Und versprichst was, wenn du annimmst. Jesus will uns frei: "Wenn du gibst, dann lass deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut" (Matthäus 6,3). Aber als Jesus selbst mal zehn Aussätzige heilte, wunderte er sich schon sehr über den Undank der neun. Geben und vergessen; nehmen, als sei einem ein Apfel vom Baum in den Schoß gefallen - das wäre ein Wunder, es geht wohl nicht.

Wir sind Erben von Siegern, die alle mehr nahmen als gaben. Die beim Almosenspenden ihre Substanz schonten. Und fassten sie tief in die Tasche, dann blieb es in der Familie, dem Netz von Alters her, das man mitknüpfte zu eigenem Nutzen. Auch die Glaubensgeschwister hatten ein Recht auf Armenpflege. Auch die war nie selbstlos. Man sammelte Bonuspunkte im Himmel und Orden in der Gesellschaft. Im heutigen Sponsoring werden mit der Nächstenliebe planmäßig Geschäfte gemacht: "Du, tu Gutes und wir reden darüber".

Einige sind besonders forsch. Du überlässt einem Freund dein Auto, abends steht es verdreckt und mit nahezu leerem Tank vor der Tür, die Schlüssel im Briefkasten. Oder du überlässt einem deine Hütte irgendwo für ein paar Tage. Dann ist das Brennholz im Kamin ausgegangen, aber kein neues gehackt, der Teppich voller Hundehaare, der Müll nicht entsorgt. Kein Dank, von Bezahlung war sowieso nicht die Rede. Ihr seht euch wieder, ach ja - war schön auf der Hütte, dank, aber kalt war's. Da bekommt man schon Wut auf die eigene Güte. Oder man hat einem einen Job besorgt. Und als er sich vorstellen soll, geht er einfach nicht hin, sagt auch nicht ab - da verliert man schon die Lust zur Nächstenliebe.

Aber im Ganzen haben wir lieber Ansprüche als Verpflichtungen, darum erinnern wir uns alle mehr an Guthaben denn an Schulden. Nichts klebt an uns wie Schulden; in mir brennt doch eine Schmach, bis ich mich endlich entschuldet habe. Ob Geld oder Großzügigkeit oder Hilfsbereitschaft - was ich genommen habe, muss ich wieder gut machen. Da ist die Geste, das Symbol kostbar, der Brief, die Blumen, die Gartenarbeit - es geht um ein Zeichen: Ich habe verstanden, ich kann deine Güte lesen - ich schätze deine Mühe, du warst sie mir nicht schuldig. Du hast es aus freien Stücken getan, ich danke dir.

Und für Schuld, für Versagen, herbeigeführten Schmerz, bitte um Vergebung, zeig, dass dir leid tut, was du angerichtet hast. Besuche im Krankenhaus, versuch den finanziellen Schaden wieder gutzumachen. Deine Schuld muss dir vergeben werden, sonst bleibst du behaftet und erstarrst unter deinem Druck. Also geh hin, bitte um Entschuldigung. Jesus sagt: "Bittet, suchet, klopfet an. Und es wird euch gegeben und ihr werdet finden und es wird euch aufgetan." Befreit wirst du glücklich sein und befreiend erst recht.


 




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