Traugott Giesen Kolumne 31.03.2001 "Die
Welt" Ausgabe Hamburg
Vom Freundschaftsdienst des offenen Wortes
Wer fasst die heißen Eisen an? Der Kollege
hat die Terminverschiebung mit dir wieder nicht abgesprochen, die Chefin
könnte beim Kaffeebestellen ruhig "bitte" sagen. Die Schwiegertochter
lässt ihren Mann niemals allein zu seinen Eltern. Auf des Doktors gelbe
Raucherfinger tät man gern verzichten. Der Kollege steht rücksichtslos
auf Knoblauch. Zwei Zimmer im Urlaub, dünne Tür, einer will fernsehen,
der andere lieber lesen; welche Lautstärke passt beiden? Zwischen Eltern
und Kindern gibt es irgendwann noch Druck. Bei Hierarchiegefälle kann
der Obere lauter werden. Den Doktor kann man wechseln, wenn er einen nervt.
Aber wer legt sich gern mit dem Nächsten an? Sein Hund bellt viele Male
am Tag, oder die Fahrräder der Kinder stehen ziemlich sperrig im Hausflur.
Wird wirklich viel geschluckt? Doch viele wollen keinen Streit, wollen sich
nicht anlegen, fühlen sich unterlegen oder sind einfach höflich.
Auch könnte man das Gegenüber reizen und das dreht dann erst recht
auf. Gerade die Beziehungen in der erweiterten Familie sind leicht zerbrechlich.
Ein böses Wort bleibt lange giftig.
Andererseits: Prozesse ohne Ende um Laub von
den Bäumen, um Reparaturen auf Kosten des Hauswirtes oder
Regressforderungen. Der Trieb, Recht zu haben, ist stark. Viele haben eine
Rechtsschutzversicherung - da gibt so mancher ohne viel Federlesen einen
Schriftsatz in Auftrag. Dabei ist nahezu jeder Prozess teurer als kein
Prozess.
Wenn man es nicht mehr aushalten kann, dann
kann es auch eine Rechtssache werden. Aber vorher rede, bitte um ein
Gespräch, schreibe defensiv, aber klar. Schlag vor, dass man mit einer
neutralen Person gemeinsam berät. Such einen, dem du vertraust und frag
nach deinem blinden Fleck in dieser Angelegenheit. Warum kocht dein
Gegenüber in dir einen großen Zorn hoch? Während andere,
die Ähnliches mit ihm erleben, eine Handbewegung des Vergessens machen.
Sicher sind wir verschieden. Einer will lieber Streit, der auch zum Gezänk
werden kann. Der andere will seine Ruhe, auch wenn sie nicht komfortabel
ist. Dabei ist Auseinandersetzung lebensfördernd. Wer ohne Amt, Bonus
und Verbündete einen wegen eines vermeintlichen Fehlers sachlich zur
Rede stellt, der tut mehr für die Menschenwürde als der stille
Dulder und Nichthinfühler. Wer immer nur entschuldigt oder unter den
Teppich kehrt, wer immer "gutschi, gutschi" macht, der wird letztlich Komplize.
Wir hatten alle die gütigen Lehrer gern, die aber hart sagten, was Sache
ist, und mieses Verhalten offen ansprachen. Der Unterschied ist nur: Wer
hat mich zum Erzieher meines Kollegen, meiner Schwiegertochter bestimmt?
Gute Beziehungen sind ein heißes Pflaster, vieles renkt sich ein. Aber
den Freundschaftsdienst des offenen Wortes sollten wir mehr bringen und
verlangen.