28.06.1998
Der Wochenspruch mit kurzer Auslegung (T.G.)
Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren
ist. (Lukas 19, 10)
So heißt es in der Bibel von Jesus. � Schwer für uns heute;
aber etwas Kraft kann man draus ziehen:
Gut zu wissen, daß Gott kommt; Zukunft ist das Kommen Gottes.
Alles wird aufgesogen, wird in Verwandlung, ins Seligmachen reingewirbelt.
Nichts geht Gott verloren. Das ist das Lehrstück unseres Jesus, sein
Leben ist Gottes Aufführung, die Klarheit schafft, was mit uns ist:
Wir sind nicht Verlorene sondern von Gott Gesuchte, also Gefundene � das
ist unsere Bestimmung. Und so leben, daß ich selbst niemanden verloren
gebe, das ist schon Anfang von Seligkeit.
Keitumer Predigten Traugott Giesen 28.06.1998
Fülle und Mangel in meinem, deinem Leben � das ist des Nachdenken
wert. � Allein wir hier in St. Severin, jetzt, heute morgen: wieviel Schicksal
ist mit uns versammelt, jeder Lebenslauf ist doch ein Drama mit Schauer
und Wonne. Malten wir unser Ich als Baum � doch, das ist eine gute Übung
zur Selbstfindung � dann wäre es wohl bei jedem sein freudevoller
Schmerzenbaum, sein schmerzensreicher Freudenbaum: Früchte und Verluste,
Blühen und Kahle, dicke Rinde, dünne Haut � wie sagt es der Psalm
90: �Und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es voll Mühe und
Arbeit gewesen�. Hoch und Tief im Leben � das liegt auch auf unsern Gesichtern;
wenn Sie Gäste auf Sylt sind, und Sylter, wenn wir anderswo Ferien
suchen � dann kommen wir erschöpft an, und hoffen, so etwas wie Heilung
zu finden.
Ja, was kann unsere aufgescheuchten Seelen zur Ruhe bringen? Was flößt
uns frischen Mut ein? �Burn-out� heißt die Mangelkrankheit heute,
�ausgebrannt�, wohin ich?, wer ist denn ich? was gibt mir noch Halt? was
Motivation � vom Lateinischen: movere, bewegen: was bewegt mich, was treibt
mich an? � Jesus schien gerade die Menschen anzuziehen, die an der Grenze
ihrer selbst waren. Es kamen viele leer zu ihm und gingen gestärkt.
Was hat er ihnen beigebracht?
Die Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung ist ein Traumbild
aus dem Reservoir der Menschheit. Hört und nehmt es auf eure innere
Leinwand. So ähnlich ist es schon da. Es gehört zum Hintergrundwissen
von uns allen:
Und sie kamen aus den umliegenden Orten hinaus zu Jesus. Es wurde eine
Menge und Jesus hatte Wehmut um sie � sie schienen ihm wie Schafe, die
keinen Hirten haben. Und er sprach ihnen vom Reich Gottes eine lange Rede
und heilte ihre Kranken.
Am Abend aber traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Laß
das Volk gehen, damit sie sich zu essen kaufen. Aber Jesus sagte: Es ist
nicht nötig, sie fortzuschicken; gebt ihr ihnen zu essen.
Sie sprachen zu ihm: Wir haben nichts als fünf Brote und zwei
Fische. Und er sprach: Bringt die mir her! Und er ließ das Volk sich
auf das Gras lagern und nahm die fünf Brote und die zwei Fische, sah
auf zum Himmel, dankte und brach's und gab Brot und Fische den Jüngern,
und die Jünger gaben sie dem Volk.
Und sie aßen alle � nach späterer Sensationsberichtserstattung
5000 � und wurden satt und sammelten auf, was an Brocken übrigblieb,
zwölf Körbe voll. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg
er allein auf einen Berg, um zu beten. Und am Abend war er dort allein.
(Matthäus-Ev. 14, 13 und Parallelstellen)
Schon viel wert, daß sie zu Jesus kamen. Schon ein Schritt nach
vorn, jetzt hier zu sein; es zeigt ein Bedürfen, ein Erwarten, ein
Sehnen, vollständiger zu werden. Das ist ein Beginn von Heilung: sich
nicht für heil zu halten. Das ist schon was, das Dürsten nach
Seelenkraft und Weisheit. Viele gingen aus ihren Orten hin zu Jesus. Dies
Suchen, dies sich auf den Weg machen, innen was Wichtiges zu erleben, ist
schon Anfang vom Ende des Unglücks.
Früher ging man auf Pilgerfahrt nach Santiago di Compostella zum
Grab des Apostels Jakobus, oder nach Rom zum Grab von Petrus und Paulus
� daß einem Nähe der Verehrten zuteil werde, vielleicht man
auch schöne Verdienste für den Himmel einfahre � heute eilt man
ins Kloster oder in ein Seminar und malt dort seinen Lebensbaum, oder geht
mit seinen Enkeln auf Entdeckungsreise in den Garten. � Der erste Schritt,
sich selbst zu finden, beginnt damit, daß ich rausgehe aus dem Gewohnten,
mich hingebe an tiefere Erfahrung, mich anrühren und entzünden
lasse, doch gern ich zu sein.
Jesus spürt bei vielen eine innere Verwahrlosung, wie Schafe ohne
Hirten, daß ich mir bin wie ein �Haus ohne Hüter�, mein Ich
ertränke im Vergessensfluß. Das Behütende des Hirten ist:
daß er vermittelt � wir gehören wohin. Wir bekommen Ichstärke
mit, eine fließende, pulsierende Energie, die mir aufgehen läßt:
Gut, daß ich bin, ich ich bin, ich hier und jetzt richtig bin. �
Und dies Wiederfinden der Seele wird sicher gefördert durch Wiedergutmachung
des Leibes: Tu deinem Leib Gutes, daß deine Seele gerne in ihm wohne,
sagt die heilige Therese von Avila. � Und Jesus, wenn er Reich Gottes predigt,
dann läßt er Frieden in die Seele strömen, und Heilkraft
in den Leib.
Das glaube ich als die Hauptsache von Reich Gottes: Du, ich, nicht
zum Fremd- sondern zum Vertrautsein da. Miteinanderkönnen ist der
Sinn. Da gehen die Spannungen des Einen durch das Ganze. Wie ein Stein
die Mauer festigt, und die Mauer den Stein hält, so sind wir einander
zugefügt und anvertraut. � Vielleicht ja schauen viele hier gern Fußball,
weil da das Füreinanderdasein so anschaulich wird, und daß man
miteinander was erreichen kann und sich vom Entgegenstehenden nicht unterkriegen
lassen muß. Das kann man am Fußball gut abbilden � egal, ob
die viel verdienen, die Ballkünstler zeigen uns unseren Lebenswillen,
unsere Tränen bei Niederlagen, unser Fairseinwollen und auch unsere
Fouls.
Jesus predigte denen damals eine lange Rede vom Reich Gottes � heißt
es in der Geschichte � und heilte ihre Krankheiten. Ins Bild gesetzt wird
Reich Gottes und Heilung als wunderbare Brotvermehrung: Die Leute haben
Hunger und Jesus verteilt, was da ist. Zuvor hält er die magere Anfangsration
� fünf Brote und zwei Fische � in den Händen und blickt zum Himmel;
er betet, er deklariert die Lebensmittel als Samen Gottes, kennzeichnet
sie als Materie der Liebe und fängt an auszuteilen. Und das Bißchen
wird nicht weniger. Jesus lebt vor: Liebe wird mehr, wenn wir sie ausgeben.
Mut wächst, wenn wir Erfahrung machen, zu der wir Mut brauchen; Freiheit
wächst, wenn wir Widerspruch üben. Wie manche Altgewordenen zäh
ihren Freiheitsraum verteidigen, indem sie sich nicht voreilig helfen lassen,
kann Zeichen innerer Stärke sein. Angst vor Gewalt schrumpft, wenn
wir zusammengehen und gewaltlos uns unterhaken. Wenn wir einige Brocken
der fremden Sprache uns aneignen, werden wir täglich mehr verstehen.
Und werden selber besser verstanden.
Ist das nicht ein gutes Beispiel für wunderbare Sympathievermehrung:
Sprachenkenntnis als Menschenkenntnis. Und warum lernst du nicht die wichtigsten
40 Sätze in Dänisch oder Französisch, wenn du nach Dänemark
oder Frankreich reist � vielleicht bist du nicht freundschaftswillig genug,
dann ist das ein Mangel, den du selbst ausbaden mußt: mit eigener
Unlust, gern du zu sein; ein Stück verachte ich mich wegen meiner
Unwilligkeit, die Sprache dort zu lernen. Und das ist nur ein Beispiel,
wie ich mir schade, wenn ich nicht teile, mich nicht mitteile, sondern
unter Unverstehen, Unverstandenwerden mich verstecke.
Jesus zeigt, was Leben heißt. Nicht einmalige Kunststücke
vollbringt er, sondern er markiert mit Leuchtschrift, was gut ist. Gut
ist zu wissen: Wir haben genug Kraft, das Leben zu bestehen. Wir haben
genug Ressourcen der Zuversicht. Wenn wir zusammenlegen, haben wir sogar
Überfluß. Aber das nicht im Voraus. Begeisterung, Trost, Vertrauen,
Lebenswille müssen aktuell kommen. Die Gaben des Heiligen Geistes
gibt es nicht auf Vorrat � in der Not wächst das Rettende auch.
Das ist eine der lebenserhaltenden Maßnahmen, die ins Lebendige
eincodiert ist: In der Not wachsen uns Kräfte zu, von denen wir in
Tagen, wo es so dahin geht, nichts wissen. In der Katastrophe wachsen Menschen
über sich hinaus, an die Helfenden in Eschede und den Schmerzorten
der Erde sei in Ehrfurcht gedacht. Alle Brunnenbauer und Kinderheimmütter
helfen leben. Die Geschichte von Bethel oder den SOS-Kinderdörfern
ist die reale Übersetzung der Geschichte von den fünf Broten
und zwei Fischen, eine Liebe zündet viel Liebe an, und Leiderfahrene
zeigen ihr schönes Gesicht.
Ja, auch in der Verzweiflung ist eine schöpferische Kraft. Verzweiflung
kann neues Leben in uns erwecken. Wir müssen uns nur sehen als auf
dem Weg, wir im Werden, beschenkt und in die Mangel genommen vom Schicksal.
Und alles hat seine Zeit, seine Gezeiten. Was jetzt ist, ist jetzt so,
und eine Woche später anders, ein Jahr später noch anders. Das
Glück ist nicht ein ganzes Glück � du kannst es verspielen, du
mußt sehen, was draus wird. Und ein Unglück ist erst ein ganzes
Unglück, wenn du darin versteinerst, nichts daraus mehr machen kannst.
Die Verzweiflung kann tiefe Quellen des Lebenswillens in uns zuschütten
oder endlich wieder offenlegen. Ja, der Triebfaden kann reißen, aber
es kann in uns auch Auferstehung beginnen, wir werden erweckt zum verwandelten
Menschen � den wir später niemals mehr zurückstellen wollen.
Was auch geschieht � daß wir nicht abfallen, ist wichtig. Da
aber mancher am dünnen Mutfaden hängt, müssen wir einander
Hirte/Hirtin sein � und stützen, beistehen, Zeichen geben: Es gibt
einen morgigen Tag. Und du hängst nicht an einem selbstgespeichelten
Faden wie die Spinne, sondern ein Netz des Zugehörens breitet sich
zwischen uns aus. Und zum Himmel schauen, da ziehen die Wolken, und denken:
Nein, ich werde nie Selbstmord begehen! (Peter Handke)
Du, komm dir nie verstoßen vor. Wir wissen nicht, warum und zu
welchem Sinn was geschieht: Aber komm dir nie verstoßen vor. Der
Gott, den Jesus vorlebt, der verstößt nichts, das Er gemacht
hat. Wenn wir fallen, hält Er, Ihm verfallen wir nicht, Er beraubt
uns auch nicht. Es muß anders sein � im Mangel ist auch Rettendes.
Auch das schwache Wort ist ein Hauch Verheißung. Eine Rose, dir gepflückt,
ist ein Grund zu leben. Ein Zulächeln, wenn du�s nur auffängst,
eine Bitte, die du erhörst, eine Freude, die du teilst � nimm sie
als Siegel: Gut daß du da bist. � Heute noch ein Tag dir, die wunderbare
Sympathievermehrung mitzuerleben und geschehen zu lassen. Amen.
Schlußgebet