Predigt 21. September 2003
Keitumer Predigten Traugott Giesen 21.09.2003
Heilung am Teich Bethesda
Johannes 5,1-18 (in Auswahl)
"Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist
aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch
Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde,
Lahme, Ausgezehrte. Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig
Jahre krank.
Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte,
spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr,
ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich
bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.
Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich
wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Und Jesus rief ihm
nach: Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, dass
dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.
Jesus geht nach Jerusalem, eins der religiösen Feste steht an im Tempel
Zentrum der Gottesbegegnung, Bewahrort der Gesetzestafeln, Ort der
Vergewisserung des Bundes Gottes mit den Menschen. Jesus flaniert herum-
oder geht er zielgerichtet? Kommt an die Stätte des Elends, zum Teich
Bethesda - zu Deutsch: Haus der Gnade. So was Verdrehtes- oder
doch Verheißungsvolles? Ein Leidensareal, fünf Hallen rund um
den See des guten Wassers. Bethesda: Haus der Gnade, weil Gott sieht, wahrnimmt,
Augenzeuge, Leidenszeuge ist, Mitfühler, Linderer, Beteiligter an den
Leiden. Und das Finstere ist nicht finster bei dir und die Nacht leuchtet
wie der Tag; (Psalm 139) Gott mit im finstern Tal, ist das schon der
Trost?.
Da liegen die Menschen, leidend an ihren Gebrechen. Blinde, Lahme, Ausgezehrte.
Einer lag schon 38 Jahre da. Und Jesus sieht ihn, Jesu Blick voll Bejaheenergie
sendet geradezu das Ansehen bei Gott. Dem Jesus kannst du dein Ansehen bei
Gott abgucken. Und wir sind alle einander als Gesichter Gottes gedacht, in
denen wir uns gesundbaden können.
Jesus sieht den, der am meisten der Hilfe bedürftig ist. Sieht ihn liegen
am Boden. Schon das Flachliegen stuft ja herab; heute in hohen Betten sind
wir als Kranke dem Besucher näher, sind nicht so ausgeliefert, wie zu
Füßen. Achtunddreißig Jahre - dass er überhaupt noch
Kraft hat, sich abstoßen zu wollen vom Staub, dass er nicht sich schon
sieht als Einrichtungsgegenstand dieser Siechenanstalt
Willst du gesund werden? fragt ihn Jesus - kühn die Frage. Jesus greift
in dem einen Satz unter seine Seele, und hält sie ans Licht. Du, musstest
ein Stück Ja sagen lernen zu deiner Krankheit, man kann nicht nur gegenan
leben, aber doch bestehst du darauf: Ich habe die Krankheit, nicht die Krankheit
hat mich. Ich lebe mit dem Mangel, aber nicht von ihm. Siegmund Freud, (Drewemann
in seinem Johanneskommentar erinnert daran) hat den hellhörig machenden
Begriff vom Krankheitsgewinn geprägt. Also, heißt
das Thema: Willst du gesund werden? Unterstellt Jesus dem Mann: Vielleicht
willst du gar nicht mehr zurück in die Mühen des Normalen, wo du
selbst für dich sorgen musst - hier bist du ja irgendwie durchgebracht
worden, willst du überhaupt wieder auf die Beine kommen, auf die eigenen
Beine? Fragt Jesus so? Und deckt damit auch in uns ein Wünschen auf
nach Rückzug und Freispruch und Aufgebendürfen unter Wahrung des
Gesichtes? Es ist ja ein gerechtes Zubrot, wenn ich nicht mehr kann, dass
ich dann auch nicht mehr müssen muss. Aber krank werden, um all dem
Überforderndem zu entfliehen?
Mancher Fleißige und in seine Pflichtmuster Eingepferchte weiß
keinen Ausweg als weiterzumachen bis das Herz endlich streikt. Und es gibt
den Wunsch nach so was wie Blindheit, ein Abdunkeln der Eindrücke von
außen auf die überforderte Seele, - "ich kann nicht mehr nach
gucken" - sagt man hier.
Und wer ein Berufsleben lang das Rumoren der Kinder in der Schule aushielt,
dem kann ein klingender Wurm ins Ohr kriechen, der alles übertönt.
Und wenn die Jungen immer flinker sind am Arbeitsplatz durch schnelleres
Schalten und elektronisches Vernetztsein von Kinheit an, während wir
Älteren das neue Zeug uns mühsam anerziehen müssen. Die Jungen
sind die Einheimischen der Moderne, wir Älteren die Asylsuchenden in
der Moderne - kein Wunder: Wenn man nicht mehr schnell genug kann, dann bleibt
man einfach stehen, es bleibt in einem einfach stehen- Blockade von innen.
Und man wird auf einmal sehr höflich behandelt und ernst genommen in
seiner Krankheit Und viele mühen sich zum ersten Mal um dich.
Willst du gesund werden? Was wäre für dich Gesundwerden? Es führt
in die Abgründe jeder einzelnen Seele. Vielleicht noch eine Strecke
Zeit schmerzfrei sein noch eine Spanne, in der es so bleibt und nicht schlimmer
wird. Oder ich weiß, dass es mich durch das Sterben fädeln muss,
um heil zu werden. Was wäre dir Hoffnung, was erwachendes Glück
für dich?
Manches Kranksein ist ein Parken im Hoffnungslosen, wo keiner dran rühren
will, und alle nur aushalten und wegfühlen und weggucken. Dann bahnt
sich Rettung an durch neues Wahrnehmen: Jesus sah ihn daliegen, der so lange
schon dagelegen hat, und sprach: Willst du gesund werden?
Der antwortet nicht mit ja oder nein. Er erzählt, und wer erzählt,
ist bereit, was von sich aufzudecken, auch sein Versagen. Er erzählt:
Ich kam immer zu spät. Immer kamen mir andere zuvor. Ich brauchte einen,
der mich vor allen andern ins heilende Wasser schmisse. Der erste nur hat
eine Chance, und nie war ich der Erste. Einmal müsste ich vor den anderen
da sein. (Später ist die Johannesgeschichte erweitert worden um die
Legende, von einem Engel; der bewegt von Zeit zu Zeit das Wasser und macht
es heilsam, und wer diesen heilsamen Schauer als erster mitbekommt, der wird
geheilt. Aber diese Bebilderung des Heilungsvorgangs bleibt kleingedruckt
in der Bibel- zurecht: Es würde ja auch noch größere Fragen
aufwerfen: warum ist Gott so geizig? Und wieder nur Lohn für die
Leistungsfähigsten? Gott ist mit den stärkeren Bataillonen
stimmte diese zynische Behauptung doch- wenn nur der eine Schnellste gerettet
wird - das wäre doch Hölle.)
Er beschreibt die Chance zur Heilung aus der Erkenntnis dessen, was ihn
krankmacht. Sein Gelähmtsein wie die andern Formen von
Niedergedrücktsein, kommen davon, dass immer die andern ihm zuvorkommen,
andere ihm vorgehen. Da klingt doch was an: die andern gehen vor!
Lass den andern den Vortritt!- das Pflichtprogramm vieler Menschen,
schon wenn die Älteste angehalten wird für den Jüngeren gut
zu sorgen, Prinz und Magd, aber auch Diva und Knecht,
aber auch: Gott und Unglücksrabe: Und du siehst dich als
der immer Zukurzgekommene, "der hinten schläft". Kennen sie noch dieses
Bildwort aus der Zeit der Kistenbetten an der Wand, wo die mit Anspruch auf
weniger Luft eben an die Wand gedrückt, schlafen mussten? Da kann man
doch nur irgendwann sich aufbäumen und abhauen, seiner eigenen Kräfte
gewiss sich durchbeißen, seinen Weg gehen, wenn man auferweckt wird.
Ja, wenn.
Willst du gesund werden? Willst du aus dem Versorgtsein aufbrechen, die
verlässliche gewohnte Rolle dir abreißen? Oder ist die Maske dir
schon festgewachsen? Willst du dein geducktes Dasein verlassen, in welchem
nur scheinbar andere dich festhalten. Du selbst lebst das wunschlose
Unglück, weil du dich selber nicht des Glückes wert hältst.
Mit einem Wort schlägt Jesus eine Schneise: Steh auf, nimm deine
Pritsche und geh. Es ist kein dröhnender, besserwisserischer Befehl,
sondern das Steh auf ist ein Sesam öffne dich.
Es spricht ihm aus der Seele, klar, leise und erhellend- Du bist wichtig;
du, geh an dein eigenes Leben, geh und im Gehen kommst du zu dir selbst.
Hab keine Angst, dass du dann rücksichtslos wirst, - du behältst
ja weiter Lust an Menschen, dann kannst du mehr für sie tun, als wenn
du aus Pflicht dich zu ihnen beugst. Du gewinnst sogar die Menschen lieb,
wenn du dich auch deines Glückes wert hältst. Die Schöpfung
ist kein Defizitunternehmen, das von wenigen Selbstlosen, mit dir an der
Spitze, über Wasser gehalten werden muss. Du dienst mit deinem
Glücklichsein auch dem Glück anderer. Wie hat das einer gesagt:
Nicht durch Verzicht hilfst du. Sondern indem viele was davon haben, dass
du dir was gönnst.-
Der Gelähmte hatte ein Bild im Kopf, die Rettung müsse kommen durch
Bessersein, Schnellersein, schneller auch durch fremde Hilfe.
Jesus sagt: Du bist richtig. du steh auf. Tu du Deins. Im Haus der Gnade
hast du, was du brauchst, besinn dich, vergleich dich nicht mehr.
Jesus brachte die Kehre mit einem Satz. Aber wenn man lange falsch gedacht
hat, braucht das richtige Denken auch lange; es ist ein langes Verlernen
der Schuldgefühle, die so niederhalten. 38 Jahre im Ich gelähmt
die Welt vermeiden, das braucht eine Strecke, um den aufrechten Gang wieder
zu können.
Und sogleich mit Jesu Machtwort wurde der Mensch gesund, er nahm sein Bett
und ging hin an sein neues Leben. Und Jesus konnte ihm nur noch nachrufen:
"Sündige nicht mehr!"
Tapp nicht mehr in die alte Falle: Als müsstest du dir Pluspunkte
verschaffen, indem du dazu da bist, dass es andern gut geht und ansonsten
unauffällig zu sein. Es geht um eine neue Buchführung. Du geliebt,
du Gottes geliebter Mensch! Du hast ein Recht auf Glück: Also wird dir
klar, was willst du, brauchst du, kannst du. Sei ehrlich in Soll und Haben,
Geben und Nehmen - jedenfalls verbuch nicht mehr dein dich Verausgaben als
Einnahmen, als müsstest du erst mal guten Eindruck machen. Sünde
ist dies Verlorensein vor Got, sich von ihm verstoßen zu wähnen,
das ist die Ursünde. Darum komm ja Jeus und entsühnt, indem er
uns erhebt, uns anschaut, uns schön findet, uns gut macht, uns an das
eigenes Gutsein erinnert. Genau mittels des andern sehen, wahrnehmen, merken.
Dafür sind wir auch da - einander zu bestärken, dass wir im Haus
der Gnade sind.