Predigt 16. Februar 2003
Keitumer Predigten Traugott Giesen 16.02.2003
Barmherzigkeit ist mehr als Gerechtigkeit
Von den Arbeitern im Weinberg
Matthäus 20, 1-15
Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging,
um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Und als er mit den Arbeitern
einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in
seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere
müßig auf dem Markt stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch
hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin.
Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe.
Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen:
Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es
hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den
Weinberg. Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem
Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten
bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und
jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die Ersten kamen, meinten sie,
sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen
Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn
und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast
sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.
Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir
nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen
Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten
dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit
dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin?
Wir brauchen Regeln, die regeln, was geht und was nicht geht, und falls es
doch passiert, wie es bestraft wird. Im Kleinen und Großen: wenn man
zusammen fernguckt, kann nicht einer die Taste nehmen und weiterklicken.
Tut er's doch, muß er bestraft werden durch Auszug der übrigen
Familie zum nächsten Fernseher, und der ist der Böse, oder so.
Im Großen: Einer hat Krieg gemacht und ist besiegt worden, musste
abrüsten, tut es nicht genug, die Strafe könnte sein, dass er nochmal
mit Krieg gezwungen wird, die Waffen herauszurücken.
Das Regeln, also Recht setzen, hat eine lange Geschichte, ist so alt wie
die Menschheit, wir sind ja immer noch damit beschäftigt. Ungerechtigkeit
ist das Ursprüngliche. Seit ganz früh galt die Macht des
Stärkeren als das Recht: also Raub ohne Ende, morden, bis man müde
ist und seinen Blutrausch gestillt hat. Ein alter Haudegen auf den ersten
Seiten der Bibel singt: Kain wurde siebenfach gerächt, - aber Lamech,
wenn der stirbt, dann werden siebenundsiebzig dafür sterben müssen
(1.Mose 4,24). Unermesslich ist der Fortschritt, wohl in Israel, ist der
Quantensprung der Menschheit eingegeben worden: Auge um Auge, Zahn
um Zahn (2. Mose 21,24).- Also die Strafe muß der Schuld entsprechen.
Diese Regel erklärt auch die Selbstjustiz zum Unrecht und legt die Gewalt
in die Hände staatlicher Autorität.
Aber wir haben noch viel Arbeit mit der Gerechtigkeit. Offenkundig ist: Wer
lebt, hat das Recht auf Essen und Trinken; Nicht verhungern ist Menschenrecht.
Und doch verhungern Millionen. Oder: Vor dem Gesetz sind alle gleich. Aber
wer kauft sich nicht frei von der Gefängnisstrafe, wenn er es kann?
Gerechtigkeit ist eine große Tugend: Das Enkelkind telefoniert mit
Oma, länger als die Mutter das gut findet, und die entwindet letztendlich
dem Kind den Hörer, sagt: Tschüß Oma, und Schluß
jetzt! Nächstes mal redet die Tochter mit der Mutter, der Enkel
will auch dran, endlich reißt der Enkel seiner Mutter den Hörer
aus der Hand, die Mutter brüllt, das Kind tritt der Mutter gegen das
Bein.- Was ist gerecht?
Die jetzt den Inspektoren weitere Zeit zum Finden der Massenvernichtungswaffen
Saddams einräumen, oder die Bushisten, die sagen, Saddam hatte genug
Zeit, jetzt holen wir uns mit kurzem Krieg seine Mordwaffen und schalten
ihn aus.
Ist das gerecht, die Amerikaner für Kriegstreiber zu halten? Hätten
sie nicht diesen militärischen Druck aufgebaut, hätte Saddam sich
überhaupt nicht bewegt? Ist das gerecht, diejenigen, die noch Zeit
einräumen, für Feiglinge zu erklären, die nur Saddam ermutigen,
nichts rauszurücken? Und ist das gerecht, einige Regierungen für
böse zu erklären, und den Kampf auszurufen gegen das Reich des
Bösen? Ist das denn gerecht, sich damit für die Guten zu
erklären?
Was ist gerecht? Russland führt einen Krieg gegen Tschetschenien,
Tschetschenen haben in Moskau ein Musicaltheater überfallen und die
unschuldigen Gäste als Geiseln genommen, ist das gerecht? Die Moskauer
Spezialtruppen haben bei der Befreiung der Geiseln alle, die sich in dem
Theater befanden, gleichmäßig unter ein gefährliches
Betäubungsmittel gesetzt. Ist das gerecht?
Sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens wurden von Deutschen ermordet.
Wie soll man über das totalitäre Böse, das halb Europa
geformt hat, Recht sprechen, wenn dieses Böse auf alle verteilt war?
Es stützte sich auf das Prinzip der schweigenden , indirekten und oft
unbewussten Teilnahme aller bei allem, mit Ausnahme der Wenigen, die offen
protestierten und mit ermordet wurden. Nach dem Fall von Hitler-Deutschland,
oft erst Jahrzehnte später, saß man in fast leeren Sälen
zu Gericht über einzelne Funktionäre der Geheimpolizei, denen mit
Mühe drei oder zehn Verbrechen persönlich nachgewiesen werden konnten,
die ergraut, senil, unzurechnungsfähig, vor Müdigkeit einschlafend,
vor Protzessende meist starben, ist das gerecht? Und welche Strafe ist gerecht
für einen israelischen Polizisten, der einen mutmaßlichen
palästinensischen Terroristen mit Folterung ein Geständnis abpresst,
das ein Attentat verhindert und so viele Menschen rettet, die wieder eine
Regierung unterstützen, die mit Panzern gegen Steine werfende Kinder
vorgeht. Und welche Strafe ist gerecht für die Mullahs, die in voller
Überzeugung den heiligen, göttlichen Willen zu erfüllen, jene
Frau zur Steinigung verurteilen, die ein uneheliches Kind geboren hat. Und
welche Strafe ist gerecht für uns, die wir es nicht verhindern? Und
wie ist im Jüngsten Gericht die Kirche zu bestrafen, die früher
zum Wohle der Menschheit Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannte? (Die Beispiele
Stammen aus einem Essay des polnischen Schriftstellers Stefan Chwin in der
Welt vom 25.1.2003)
Es ist zu vielschichtig, das menschliches Leben, wir können es nicht
auf Entweder-Oder zusammenstreichen. Es sind zu viele Komplikationen in der
Wirklichkeit, zu viele Verbindungen, als dass wir die Welt sortieren dürfen
wie im Märchen: Die Guten (Erbsen) ins Töpfchen, die schlechten
ins Kröpfchen (des Federviehs). Darum gelobt sei das Zögern, das
Einladen zum Gespräch, das Verhandeln, Beraten, Kompromisse finden,
das Ringen um eine gemeinsame Wahrheit, vielleicht alte Tugenden eines alten
Europas, aber erfahren aus zu vielen Kriegen. Und gegeben vom jüngsten,
frischesten Mensche überhaupt, der aufersteht jeden Morgen neu und uns
in seine Nachfolge ruft, uns ruft, dem Reich Gottes hier Quartier zu machen.
Jesus Christus sucht mit uns die bessere Gerechtigkeit - durch Zögern
vor Gebrauch von Gewalt; Jesus lockt in den Raum des Erbarmens: Gerecht ist,
den Vielen Gerechtigkeit zu schaffen, ihnen beschaffen die Möglichkeiten,
dass sie gerecht sein können, das ist gerecht. Die nichts vorzuweisen
haben an Leistung, denen Arbeitenkönnen einräumen; Die nichts haben
als ihr Bedürftigsein, denen Genüge beschaffen.
Moralisch und rechtlich einklagbare Gerechtigkeit stößt doch schnell
an Grenzen, neue Ungerechtigkeiten tun sich auf. Wenn es tatsächlich
so etwas wie objektive Gerechtigkeit gäbe, dann bräuchte man keine
Prozesse, und die Verurteilten würden selbst ihre Verurteilung fordern,
der gerichtlich Verurteilte wäre voll und ganz mit seiner Verurteilung
einverstanden, aber das geschieht doch selten (X. Marias). Und die
Terroristen - sie sind wahrlich nicht gerecht. Doch - sagt Camus: "Im Grunde
ist niemand unerbittlicher als ein ungerecht behandelter Mensch, der sich
in seiner Unschuld stark fühlt."
Und es ist ein bibelgestützter Wahn, diese Fixierung auf ein Reich des
Bösen; Und Landbesetzung unter Verweis auf göttliche Verheißung.
Krieg lässt barbarisch zurück.
Und Forcieren ist Sünde: der Pastor, der von der Kanzel wettert, der
Anwalt, der in Ehe und Familienstreitigkeiten forsch anschwärzt, um
seinen Mandanten rauszuhauen - sie sollen es doch lassen.
Das Recht ist besser als Unrecht, aber besser als Recht ist Großmut
und Güte. Recht ist allermeist Besitzrecht, die haben am meisten vom
Recht, die viel besitzen. An der Meinungsfreiheit kann man das gut klarmachen:
Meinungsfreiheit ist die Freiheit unter verschiedenen Zeitungen wählen
zu können und ganz wenige mit viel Geld können sich auch die
Verbreitung ihrer Meinung durch eine eigene Zeitung leisten. Also
Meinungsfreiheit ist die Freiheit von hundert Reichen, sich eine Zeitung
zu halten, die ihre Meinung herausposaunt (so Paul Sethe). Die Ärmsten
verstecken ihre Armut und gehen aus Scham nicht zum Sozialamt. Was ist gerecht?
Die einen haben 12 Stunden gearbeitet, die andern 9, wieder andere 6 und
3, die letzten nur eine Stunde. Der Weinbergbesitzer gibt allen den gleichen
Lohn, nämlich das Geld für die Nahrung des nächsten Tag. Die
viel dafür malocht haben, finden das ungerecht. Und es ist ungerecht
für die unter der Hitze des Tages Erschöpften, gemessen an der
Mühe, die erspart blieb denen, die wenig Arbeit hatten. Aber sie waren
mit dem Herrn doch übereingekommen. Er hat ihnen nichts genommen. Aber
er hat anderen mehr gegeben. Weil der Herr deren Not sah. Sie haben weniger
gepuckelt, aber hatten doch länger Angst abends mit leeren Händen
zu ihren Familien kommen zu müssen, wieder beschämt,
überflüssig zu sein. Was siehst du scheel, dass ich deinem Bruder
gütig bin?
Die Losung von gestern rührt an das Geheimnis der Wirklichkeit; Jesaja
53,11: Gottes Knecht schafft den vielen Gerechtigkeit, denn er trägt
ihre Sünden. Daß einer uns auslöst, dass wir einen
auslösen - ist das schon passiert: Wenn der Vater sich für den
Ladendiebstahl des Kindes entschuldigt, das Mehrfache des Geforderten hinlegt
und mich aus den Fängen des Detektivs erlöst. Daß einer den
von Schlägern bedrohten Ausländer auslöst, indem er die Typen
ablenkt , einlädt, mit ihnen verhandelt, ein interessanteres Angebot
macht; Gerechtigkeit ist viel; aber Barmherzigkeit geht darüber hinaus
und eröffnet damit ein Stück Reich Gottes.