Traugott Giesen Kolumne 04.12.1999 aus Hamburger Morgenpost
Die letzten Tage dauern
Ich begeistere mich an Menschen, die mit Lust älter und älter
werden. Die dem nachtrauern, was sie einmal verlassen müssen. Die
selbst so tun, als wären sie selbst mal die Verlassenen. Die selber
sich noch lange nicht vergangen geben. Die mit 88 ein Laufband kaufen,
damit sie ihre 1000 Schritte auch im Haus tun können. Die wieder Musik
machen oder doch noch Computer lernen und noch gern küssen, dann und
wann.
�Ein Mensch, der sich selbst verneint, ist blinder und grausamer als
andere�, sagte Tolstoi und meint das ohne Zeitbegrenzung. Sicher beguckt
man sich im Alter weniger im Spiegel, findet die eigene Vergeßlichkeit
komisch und verzichtet auf manches, um mit möglichst wenig fremder
Hilfe auszukommen. Aber der Wille, noch hier zu sein, noch schmecken, fühlen,
vieles mitzukriegen � der ist doch stark. Auf sich halten, gern andern
noch zuschauen, wie sie ihr Leben meistern, neugierig sich auf die Schliche
kommen, wie man noch immer schlau für sich Beute macht � das ist doch
ein tägliches Gebet und ein Prost auf das Leben wert.
Ob manche auch so alt werden, weil sie vorm Tod davonlaufen? So leicht,
wie Voltaire es sagte, ist es ja nicht: Solange ich lebe, ist der Tod nicht
da; und wenn der Tod da ist, bin ich nicht mehr da. Die Zwischenzeit könnte
sich strecken, das Sterben könnte Mühe machen. Wenn das mal bei
mir so sein sollte, dann soll das wohl so sein. Dann brauche ich diese
schwierige Strecke noch, weil ich so am Leben hänge, muß ich
vielleicht so richtig abgeschält werden � so denk ich, wäre es
gut, dann zu denken. Jedenfalls, wenn ich ein gesundes Herz habe, aber
die Lunge oder sonst was ist schlechter dran, dann kann sich das Hiersein
ziehen.
Ärzte sagen, daß wir heute weitgehend schmerzgelindert sterben
können. Das wäre freundlich. Aber ich möchte nicht kurzen
Prozeß gemacht bekommen und auch nicht sterbeverlängernde Maßnahmen.
Da ist eine Unschärfe drin � weil ich mein Leben sicher verlängert
haben will, in dem Sinne, daß Krankheit eingedämmt werden soll.
Man sollte es seinem Arzt und seinen Nächsten schriftlich geben: Wenn
die Entwicklung zum Tode sich klar abzeichnet, dann mögen Nächste
und Ärzte, Schwestern mich bewahren vor Verwahrlosung und Qual � aber
dem Lauf der Dinge, ja, seinen Lauf lassen.
Sind diese Gedanken nicht Luxus? Wo doch jeder Schritt über die
Straße auf der Motorhaube eines Autos enden kann. Und Millionen Kinder
verhungern. Wir werden schon von hier loskommen, wenn�s Zeit ist. Vielleicht
kommt der Tod ja auch leicht. Ja, dir soll die Seele fortgeküßt
werden und dann geht doch der Vorhang erst richtig auf. Bis dahin laßt
uns mehr Leben in die Zeit tun, die uns bleibt. Möchten wir bewahrt
bleiben vor Mißtrauen.