Traugott Giesen Kolumne 06.11.1999 aus Hamburger Morgenpost
Nur eine Handbreit über dem Chaos
�Der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe und suchet,
welchen er verschlinget� � das gehörte früher zum Abendgebet.
Und auch die Bitte: �Dein heiliger Engel sei mit mir, daß der böse
Feind keine Macht an mir habe.� � Wahnsinnstaten der Sorte Martin P., Reichenhall
scheinen so teuflisch, daß unsereins Höhere Mächte zum
Beistand haben muß. Sonst verlieren wir den Verstand.
Früher galt der Mensch als Schauplatz des Kampfes Gottes gegen
seinen Widersacher. Und heute? Da überlassen wir das Böse sogenannten
Satanssekten, die sich high machen an Zurschaustellung von bizarrem Wahn.
Bleibt uns Modernen denn nur Achselzucken, Ruf nach Jugendamt und Verbot
von Gewaltvideos?
Was ging in dem Sechzehnjährigen vor, der drei Menschen und sich
selbst umbringt und etliche schwer verletzt? �Was geht vor� � fragen wir
und meinen falsche Gedanken, Ängste, Gier und Rache. Ist es nicht
realistischer zu fragen: �Wer geht in dem Mörder vor?� Müssen
wir nicht eine reale Macht annehmen, die in uns einzieht, von uns Besitz
ergreift, die unser Ich aussaugt und unsere Seele umnachtet? Adolf Hitler
und seine willigen Knechte, die scheinen doch Hülsen einer bösen
Macht, entmenschte Geschosse des Bösen. Hitler, Stalin, Pol Pot und
Luis Alfredo Garavito, der eben um Verzeihung bittet, daß er 140
Kinder umgebracht hat � sie müssen doch Besessene sein. Sie können
nicht selbst für sich schuld sein, nicht für sich die Schuld
tragen, sie scheinen von Bösem benutzt.
Aber ich will nicht an einen Gegengott glauben. Keine zwei Prinzipien,
die um uns als ihre Gefolgsleute kämpfen! Keine Erde als ewiges Schlachtfeld.
Ich will die eine Menschheit glauben, die das wunderbar gute und so gefährdete
Leben miteinander erfährt. Gutes und Böses gehört uns allen.
Wir sind dazu da, Freude zu mehren, indem wir sie teilen. Und jeder muß
sein Quantum an Mühen auf sich nehmen, es tragen und verwandeln.
Die alte Geschichte von Kain und Abel sagt Verheißung weiter
in allem Furchtbaren: Der Mensch, der nicht seines Bruders Hüter sein
will, sondern hingeht und ihn erschlägt � auch dieser der Erlösung
Bedürftigste, von allen guten Geistern Verlassene, behält das
Besitzzeichen Gottes. Gott haftet letztlich für Kain. Ich nehme daraus:
Alle Macht ist Gottes Macht, auch die mißbrauchte, auch die im Mord
Gott entwundene Macht. Fürchterlich, den Guten so nah an die Schuld
der Welt gerückt zu sehen. Kein Wunder, daß viele Menschen verzweifeln
an diesem Gott, der Auschwitz nicht verhindern konnte, weil er es erlitt
in den Geschundenen und Hingemordeten. Daß Gott nicht auf die Welt
spuckt, sondern in jedem Neugeborenen neu die Liebe entwickeln will, ist
unser Glück. Jede Freundlichkeit mehr ist eine Untat weniger. Und
Liebe beschützt.