Traugott Giesen Kolumne 30.10.1999 aus Hamburger Morgenpost
Aufhören und Anfangen hat seine Zeit
Pakete aufschnüren, Abschied von der Bühne nehmen, eine Zeitung
ablegen, eine Zeitung einfangen, die zerfallene Ehe scheiden, eine neue
Liebe wagen � hat alles seine Zeit. Abschied und Neubeginn muß sein,
damit das Leben nicht stockig wird.
Panta rei � alles fließt, sagten die Griechen und drängten:
Denk und dann tu es. Und es muß anders sein als vorher, denn die
Umstände wandeln sich minütlich. Wer am Morgen noch den Brief
genau so losläßt, den er am Abend in ernster Angelegenheit geschrieben
hat, der hat nicht die Kraft der nächtlichen Träume einfließen
lassen. Wer sich feilbietet als der Sänger von früher muß
in Kauf nehmen, auch verlacht zu werden. Wer bleiben will, wie er ist,
vergeht. Wir werden doch älter Zeit unseres Lebens. Unsere Standpunkte
sind doch nur Skizzen, kein Granit. Kräfte, Gaben, Aufgaben muß
ich oft neu wägen. Und muß zulassen, daß die andern sich
umorientieren. Es ist doch Glück, seine Meinung ändern zu können.
�Es geht nicht mehr� soll Stoph zu Honegger gesagt haben und hat so
den Anfang gemacht vom Ende. Gut, wenn ich merke, was dran ist. Einfach
so weiter es laufen zu lassen, bis es sich totläuft, das vergeudet
nur Lebenszeit. Leb doch endlich deinen starken Wunsch; jedenfalls ordne
dein Tun und Lassen mehr und mehr in die Wunsch-Richtung. Hast du nicht
schon viel zu lange gegen deine Interessen gelebt?
In Anfangen und Aufhören gestaltet sich das Ich. Deine Seele erhält
Anwachs aus dem Wechsel von Vergilben und Grünen, Befreunden und Vernachlässigen,
einen Fall abschließen und ein neues Projekt säen. Wir können
nicht alle Ernte festhalten, wir müssen die Hände leer kriegen,
damit sie Neues fassen können. Und dies Verlangen nach mehr Leben
wird mal der Inhalt unseres Lebens gewesen sein.
Wir suchen Formen, worin wir uns ablagern können. Kindern einige
Erkenntnisse weitergeben, ein Haus oder eine Orgel oder ein Medikament
oder eine Technik bauen, die noch einer Generation mehr dient, ein Hilfswerk
mittragen, das Menschen rettet, oder die vom Aussterben bedrohte Pflanze
wieder fördern � fang was an, das dir wichtig ist. Mit Hingabe komme
den Erfordernissen auf die Spur, sei konzentriert, geistvoll, zur Mitarbeit
einladend. Behalt immer wieder dein klopfendes Herz. Und alle Dinge sind
schwer, bevor sie leicht werden.
Anfangen hat einen Vorlauf, und Enden nimmt was mit. Nie starten wir
bei Null, nie fallen wir ins Nichts. Könnten wir doch mutig anfangen
und aufhören auch. Dazu überschlag dein Vermögen und erbitte
Segen. Irrtum und Fehler mögen dir im Rahmen bleiben; �die Zeitreihe
aber gehöre dem Erfolg und dem Gelingen� (Goethe).