Traugott Giesen Kolumne 04.09.1999 aus Hamburger Morgenpost
Fremdes Leid verweht schnell
Beim Erdbeben in der Türkei starben wohl vierzigtausend Menschen.
Hunderttausende sind verletzt, obdachlos, verlassen. Aus Angst vor Nachbeben
werden auch die noch bewohnbaren Häuser gemieden. Bilder von Menschen
im Schlamm sind die letzten, die noch an unser Bewußtsein drangen.
Unser Erschrecken erlahmt schnell. Anders ist es, wenn man Angehörige
dort hat, für die man sich direkt verantwortlich sieht, oder gar Mann,
Frau oder Eltern, die man dort vermißt. Dann muß man hin oder
alle mögliche Hilfe in Bewegung setzen.
�Mein eigen Fleisch und Blut� nennen wir altertümlich die Nächsten,
deren Not uns so nah geht, daß sie auch unsere eigene Sache ist.
Aber selbst Geschwister lassen einander hängen. Kinder (Söhne
noch mehr) drücken sich oft vor altgewordenen Eltern; Väter drücken
sich vorm Unterhalt. Ehen laufen auseinander und teilen nicht nach Bedürftigkeit.
Bei Unfällen rücken manche Unfallzeugen nicht eine Decke raus,
lassen den Verletzten nicht einsteigen aus Angst vor Blutflecken auf dem
Autositz.
Es gibt viele wunderbare Menschen, die mit Mut und Tatkraft sich hinhalten
oder Geld mit offenen Händen hinschicken an die Plätze der Verzweiflung.
Es gibt Prediger, die einem die Geldbörse entfalten, weil man merkt,
der gibt auch seinen Teil. Es gibt Ärztinnen und Sanitäter, Helfende,
die keinen eigenen Bauch mehr haben, so völlig sind sie bei den Leidenden.
Die Erde wäre längst entvölkert, wenn es nicht Güte
die Fülle gäbe.
Bedenke nur deine eigene schlimmste Notlage. Wie kamst du da heraus,
wer half dir? Wieviel Engel in Menschengestalt sprangen dir zur Seite?
Eigenartig, daß wir sofort aufzählen können, wem wir halfen,
aber Menschen unsere Hilfe mit Undank quittierten. Dagegen sind die Personen,
denen wir Dank schulden, uns entfallen � was zeigt: Auch die Hilfe, die
wir erfuhren ist verblaßt. Und warum? Warum vergessen wir gern unsere
Not und die Nothelfer? Weil wir dann viel mehr Güte bringen müßten.
Haben und Festhalten ist unser Normalfall, Behaltenwollen ist unsere
Hemmschwelle. Zu Barmherzigkeit müssen wir immer wieder bekehrt werden.
Wie soll denn der unter die Räuber gefallene auf die Beine kommen,
wie die Obdachlosen in der Türkei an Notquartier und Essen, wenn nicht
wir Wildfremden einspringen? Aber wir müssen auch helfen, damit wir
nicht selbst verrohen. Des andern Not entblößt doch auch die
eigene Hilflosigkeit, die jeden Augenblick über mich einbrechen kann.
Wie mein Erdbeben aussieht � ob Unfall oder Schlaganfall oder Verschuldung
� ich werde auch fremde Hilfe brauchen. Und sie wird mir zustehen, selbst
wenn ich mich jetzt verhärte. Aber ich werde Güte leichter annehmen
können, wenn ich selber großzügig war.