Traugott Giesen Kolumne 03.07.1999 aus Hamburger Morgenpost
Kinder brauchen Grenzen
Sich ausleben soll das Kind; es wird schon noch genug eingeengt. In
der Etagenwohnung stößt es sowieso alle paar Armlängen
vor die Wand, im Auto-Kindersitz angeschnallt, ist Bewegung schon genug
gezwängt. Und von Nachbarkindern wird ihm früh genug noch die
Härte des Lebens gezeigt. Also laßt das Kind doch erst noch
gewähren, paradiesisch grenzenlos. So schwärmen manche Eltern
und sind voll mit Beschützen und Wieder-Saubermachen beschäftigt.
Auch in leidvoller Erinnerung an eigene Bandagen wollen junge Eltern
Freiheit schenken: Sie geben die ausgeschälte Banane oder den ganzen
Apfel dem Kleinen in die Hand. Es kaut dran rum, verliert die Lust, die
Banane läßt sich schön drücken, das Kind fühlt
seine Kraft und jauchzt. Der angekaute Apfel fällt, die Mutter hebt
ihn auf, gibt ihn wieder in die saftig rutschige ausgestreckte Hand. Zum
Munde geführt, gleitet er wieder zu Boden und Mutter hebt ihn wieder
auf, damit es weiter speise. � Aber das Kind hat viel mehr Lust an Mutters
zierlichen Verrenkungen; und schleudert die Frucht weg � wie erstaunlich:
der Apfel kommt wieder.
Besser doch ein Apfel-Viertel dem Kind. Und wenn es aufgegessen ist,
das nächstes Stück. Oder beim Brot � jedenfalls nicht die ganze
Schnitte. Es wäre doch Einladung, das Brot zu Matsche zu kneten. Auch
ein kreatives Kind, dessen Gestaltelust nicht eingeengt sein soll, muß
früh den Unterschied lernen zwischen Brot und Knete; zwischen Apfel
und Ball. Damit es früh entscheiden kann, früh Gut und Böse
scheiden kann. So hat das Kind bald Freiheit, aus eigener Einsicht nicht
Brot zu Modder zu machen und Modder nicht zu Essen.
Respekt vor Schönem, vor anderer Leute Eigentum, vor Mutters Zeit,
Respekt vor Leben in jeder Form muß man früh gezeigt bekommen.
Auch Verzichten lernen und ein Stück Schmerz ertragen � etwa, daß
Mutter/Vater auch noch für andere Menschen und für sich selber
dasein wollen und müssen. Aber, daß sie immer wieder kommen,
daß sie verläßlich sind und mich liebhaben � auch wenn
ich sie geärgert habe � das sollen Kinder an euch ablesen. Lehrt ihr
Eltern, euer Kind: Du bist eine positive Erscheinung, schön und wichtig,
wie die Sonne, mindestens. (Darum ja tut auch die Taufe so gut: Vom �Alles,
was ist�, vom väterlich-mütterlichen Lebensgrund bist du ins
Leben gerufen � das ist die Widmung für den neuen Erdenbürger.)
Du, Kind, bist wunderbar inmitten wunderbarer Anderer. Erziehung soll dem
Kind helfen, daß es glücklich gern es selbst ist, auch unter
Mühen und Verzichten. Es soll seine Würde durch euch kennenlernen
und sein Würdegeben auch. Es soll Macht über das eigene Leben
gewinnen, auf sanfte Art. Lassen wir die Kinder merken, welche Grenzen
uns wichtig sind, was wir für gut und gelungen halten und was uns
erschreckt und traurig macht.