Traugott Giesen Kolumne 12.06.1999 aus Hamburger Morgenpost
Europa ist der Mühe wert.
Wir lesen auch im fernen Urlaubsland am liebsten unsere Heimatzeitung.
Und darin zuerst die Rubriken von unserm Stadtteil. Die Gesellschafts-Anzeigen
suchen wir durch, ob aus unserm Bekanntenkreis jemand heiratete oder starb.
Unser Horizont ist ziemlich eng. Je näher an unserm Lebenskreis, desto
mehr sind wir beteiligt.
Und doch ist es wunderbar, daß wir in Europa mehr miteinander
zu tun bekommen. Wir hätten ja zu gern auf den Kosovo-Krieg verzichtet,
und doch konnten wir nicht weiter uns hinter dem breiten Rücken der
USA verstecken. Wir haben durch nächste Nähe mehr Verantwortung:
Wir müssen die Vertriebenen aufnehmen, wenn wir ihnen nicht zu ihrem
Recht auf Heimat verhelfen.
Gut, daß die Europäer Ahtisaari, Tschernormyrdin, Solana,
Schröder, also Finne, Russe, Spanier, Deutscher und die andern europäischen
Politiker den kriegerischen Europäer Milosewic zur Vernunft brachten.
Alle hätten wir unsere kleine schnuckelige Heimat für uns,
blieben hinter unsern sieben Bergen gern allein. Aber wir sind zu viele,
unsere Wünsche und Probleme gehen über die Grenzen. Unser Essen
duftet neapolitanisch, unser Luxus stammt aus Frankreich, unsere Sonne
suchen wir im Süden; Lady Di und Prinz Charles gehören uns auch;
das internationale Fußball-Ballet sehen wir lustvoll; die Teile unserer
Autos sind aus vielen Nationen. Und unser Wissen und unsere Ahnen sind
einst alle von weither gekommen. � Europa war eine phönizische, also
westasiatische Prinzessin, die Zeus in Gestalt eines Stieres auf seinem
Rücken nach Kreta trug. Die Sage erinnert daran, daß die Europäische
Kultur ihre Wurzeln in Ägypten, Arabien, Persien, Indien und China
hat, von Israel und dem Jesus Christus gar nicht zu reden.
Kümmern wir uns also um Europa aus Herzensbedürfnis. Allein
schon, daß in den 15 Mitgliedsländern elf Sprachen gesprochen
werden und bei Osterweiterung es wohl zwanzig Sprachen sein werden, spiegelt
die Größe des Ereignisses. Elf bis zwanzig Sprachen an einem
Tisch, in einem Parlament, rein technisch wird das Verstehen ganz viel
Heiligen Geist brauchen. Noch nicht einmal zwei Sprachen kann man hier.
Solch Provinzialismus geht nicht mehr. Wir müssen uns mehr um die
Nachbarn kümmern, im Haus, in der Straße, im Lande nebenan.
Das Europäische Parlament wird immer wichtiger. Gesetze für reine
Lebensmittel, nützliche Arzneien, für Naturschutz und Buchpreise
werden hier gemacht, wohl schon die Hälfte aller Gesetze, die für
uns gelten, gelten für all die Länder auch, wie auch bald das
gemeinsame Geld. Die Nationen werden verwandter, wir bleiben auch weiter
weg mehr Zuhause. Das sollte deinen, meinen Wahlgang wert sein.