Traugott Giesen Kolumne 06.03.1999 aus Hamburger Morgenpost
Pflücke den Tag
Ein starkes Bild: Der Tag als Frucht, begehrenswert, leuchtend, zu
schade als Fallobst; am besten sind die handverlesenen, die mit Liebe geernteten
Tage. Oft sind wir verschwenderisch: Wir bringen unsere Jahre zu wie ein
Geschwätz, sie fliegen schnell dahin, als flögen wir davon (so
Psalm 90). Das �Carpe diem� des alten Ovid macht hellhörig: Pflücke,
nutze den Tag! Es ist die denkbar größte, die köstlichste
Kostbarkeit: Dir ist Zeit gegeben, Tage, Jahre, Nächte � Netze voll
Lebendigem.
Ja, das könnte ein brauchbares Bild sein: Tage als Netze, die
uns Beute bringen, Tage als Taschen, Schätze zu sammeln. Also pflück
in diesem heutigen Tag Beute, fahr in die Scheunen deines Bewußtseins:
Antlitze, Blüten, Farben, Düfte; und gute Taten tu und laß
dir Gutes tun.
Alle Augenblicke ist ein Jahr um. Doch mal streckt sich die Zeit, mal
schnurrt sie zu einem Nu zusammen. Goethe sagte: Das Leben ist kurz, der
Tag ist lang. Dies entdecken: den Tag auswickeln und nehmen als Zeitraum
eines kleinen Lebens: Morgens jung, mittags voll im Saft, gen Abend hin
ausruhen und feiern, des Nachts dann das Sterben lernen, das Loslassen,
sich abgeben in gute Hände.
Allein mal einige Minuten dem Sekundenzeiger zuschauen, wie er über
das Zifferblatt kreist, da merkt man das Weben und Atmen und Brüten
und Gehen der Zeit. Darin und darunter gibt es einen Anwachs. Wie an den
festen Inselkern sich Schlammfelder ansiedeln und Dünen anwehen, so
bildet uns die Zeit. Wir werden kompakter wir selbst im Laufe der Zeit,
bis wir dann geerntet werden vom Herrn der Zeit. Gut zu wissen, daß
für nichts die Zeit vergeht, alles ist da und wartet darauf, daß
man es zurückholt. Vielleicht sind unsere Bewußtseine die Schleppnetze,
mit denen Gott sich die Schätze zu Gemüte führt.
Jedenfalls ist ein Merken des wunderbaren Daseins angebracht; und auch
ein Achten auf Unkraut und Weizen. Was wir einsäen, ernten wir auch,
wir und/oder unsere Kinder. Den Umständen entkommen wir nicht, aber
wir können sie verändern durch Arbeit.
Jeder Tag, den du mitmachen darfst, ist eine neue Berufung, den Tag
gut zu füllen, die Zeit in das Hinstellen von Häusern oder das
Basteln einer pfiffigen Zeitung zu nutzen. Auch ein gedeckter Tisch, Grüße
dem Passanten, saubere Laken und freundlicher Besuch dem Kranken sind gut
genutzte Zeit. � Mal spüren wir das rasende Erleben des Augenblicks,
mal fließen die Tage dahin wie ein Strom. Daß darin, im Eilen
und Verweilen, Ewiges leibhaftig wird, und wir Menschlein denkend das erleben
dürfen ist groß. Da erschreckt es auch zu denken, einmal keine
Zeit mehr zu haben. Dann sind wir aus der Zeit gegangen, ob vergangen oder
nach Haus gegangen, wir werden sehen.