Traugott Giesen Kolumne 06.02.1999 aus Hamburger Morgenpost
In der Not � bitte fall zur Last
Ein schwerbehinderter Mann � es ging durch die Zeitung � hat neun Stunden
am Straßenrand ausgeharrt; er wagte nicht, die verkehrsreiche Straße
zu überqueren. Polizeibeamte fuhren den völlig erschöpften
Mann schließlich nach Hause. �Mich hat keiner gefragt, ob er mir
helfen könne; ich habe keinen angesprochen. Ich möchte doch keinem
zur Last fallen.�
�Bittet, suchet, klopfet an�, drängt Jesus. Er setzt auf viel
verborgene Menschenfreundlichkeit unter uns. Solange wir nur pauschal gemeint
sind, kann man leicht wegsehen. Doch einer vor deiner Tür, hungernd,
abgemagert � du kannst ihn nicht leer von dir lassen. Wenn du nur ein Passant
bist, einer im Strom, ist es noch was anderes. Aber sobald du Einzelner
bist, du gemeint bist, am besten noch mit deinem Namen angesprochen, bist
du zuständig.
Und wenn du dann noch sehr fähig bist zu helfen � dann ist das
dein Glück. Du bist nicht in der Not, die genau so dich hätte
treffen können. Du bist berufen, Retter zu sein.
Du machst auch dir die Welt verläßlicher. Weil du halfst,
kannst du zuversichtlich sein, daß auch dir einer aus der Not hilft.
Du hast das Netz stabiler gemacht.
Das ist ja das Gift der unterlassenen Hilfeleistung. Wenn du nicht
wenigstens Hilfe herbeitelefoniert hast oder dem Verletzten deine Decke
aus dem Auto unter den Kopf gelegt hast, � wenn du statt dessen gefragt
hast, wer dir die Reinigungskosten erstattet, � dann werden die Stacheln
der Schuld in dir stechen und stechen. Deine miese Habgier und dein blödes
Glotzen wird dir Horrorträume machen. Du wirst möglicherweise
das Saufen anfangen oder das Haus nicht mehr verlassen. Es sei denn....
Es sei denn, du tust bewußt Buße: machst den Rettungsschein
oder spendest an Helfende einen großen Schein und sehnst dich, deine
Wohltaten los zu werden.
Wir brauchen doch Menschen. Wir alle brauchen die Hilfe aller. Die
Illusion vom autarken, selbständigen, allein vollständigen, kompletten
Ich ist Lüge. Alles haben uns andere beigebracht, wir brauchen Mitmenschen,
�man kann sich nicht alleine Gute Nacht sagen� (M. Frisch). Schon nach
einem Beinbruch müssen Schwestern uns windeln. Zwar ist sich selbst
zu helfen das Normale. Doch jeder hat das Recht auf Hilfe, wenn sein Vermögen
ausgeschöpft ist. Wer sich dann schämt zu bitten, der will sich
Menschen nicht ausliefern. Weil er ein schlechter Helfer war? Dann hol
den Lernstoff nach: Wir sind doch Geschwister � letztlich sind wir uns
sehr verwandt. �Jeder ist zum Hüter mehrerer Leben bestellt, und wehe
ihm, wenn er die nicht findet, die er hüten muß. Weh ihm, wenn
er die schlecht behütet, die er gefunden� (Canetti).