Traugott Giesen Kolumne 30.01.1999 aus Hamburger Morgenpost
Arbeit als Droge
Die Produktivität ist enorm gewachsen � die Arbeitsbelastung ist
stark gestiegen. Die Menschen an Maschinen und Schaltern sind am Feierabend
ausgehöhlt. Zu feiern ist nicht viel. Zweit- und Drittjobs warten
schon. Die Privatsphäre schrumpft, weil man nur vorhanden und abgeschaltet
ist. Freundschaft und Liebe werden flüchtig: Die wichtigen Menschen
haben ihren eigenen Stundenplan. Nur ein kleines Kind kann mit seiner Hilfsbedürftigkeit
stark zentrierend wirken. Und ein Schlag ins Kontor � eine Pleite, ein
Infarkt, eine Scheidung � stellen auf einmal alles in Frage.
Wenn du viel mehr als andere arbeitest, was ist dann los? Willst du
mehr Geld oder mehr Ruhm, bist du vielleicht einem Geheimnis auf der Spur,
dem Mittel gegen Alzheimer, oder suchst den Zwei-Liter-Motor? Willst du
nach 15 Jahren Maloche ausgesorgt haben? Oder mußt du im Mäuserad
der Leistung länger bleiben, einfach, um mitzuhalten? Bleibst du,
um mehr Kohle heimzubringen? Du bist gern Ernährer, stolz, daß
die Familie sich was gönnen kann � wegen deines Fleißes.
Oder hast du einfach riesig Lust an deiner Arbeit, sie ist dein Leben
� du kannst darin dein Privates, dich selbst gut erleben? Du bist bei der
Arbeit in Urlaub. Was du willst und mußt ist eins. Ist das so? Alle
Künstler leben so ineins.
Oder ist es ganz anders? Meinst du, nichts zu können als arbeiten?
Da fühlst du dich sicher, da bist du unangefochten, da stellt dir
keiner unbequeme Fragen. Da rüttelt keiner an deiner Autorität,
wie etwa zu Hause die dreisten Kinder. Da fordert keiner von dir geistige
und körperliche Überzeugungskraft, wie der Partner. Ist dir Arbeit
deine Ausrede, deine Flucht?
Deine Arbeit macht dir keine Angst. Da weißt du, wo du dran bist.
Da bist du dir selbst berechenbar. Aber Zuhause � ist es so? � da hast
du Angst zu enttäuschen. Und um dem vorzubauen, spielst du den Fordernden,
den Schwierigen, der Rücksicht braucht; läßt sie gern zittern,
die Lieben, damit sie dich in Ruhe lassen. Und das Spiel durchschaust du
und bleibst gleich ganz weg, bleibst lieber on the job � da wirst du nicht
zerrissen; ist das so?
Teste das mal � ob du gar nichts anderes mehr kannst? Ob du dich hinter
Arbeit versteckst, Termine ersehnst, Panik bekommst von der Vorstellung,
dein Schreibtisch wäre leer? Hast du was neben deiner Arbeit? Wo fühlst
du dich, wo sonst bist du gerne du?
Ohne deine Rolle, deine Werkzeuge, deinen Job, bist du auch wer. Laß
die Angst zu, daß du ohne deine Arbeit dastehst wie bestellt und
nicht abgeholt. Lern das: Du bist als Person gut und wichtig, nicht nur
wegen deiner Leistung. Du, übe ein, dich zu mögen; lern, dir
gut zu sein. Wage, dich wieder mehr zu lieben. So legt sich deine Arbeitswut
und du findest Frieden.