Traugott Giesen Kolumne 09.01.1999 aus Hamburger Morgenpost
Laßt ihnen doch den andern Paß
Was bilden wir uns nur ein damit, daß Deutschland exklusiv gewollt
sein muß. Mein Bruder hat eine Amerikanerin geheiratet, sie haben
Jahre im Libanon gelebt, dann zehn Jahre in Kanada, jetzt in den Vereinigten
Arabischen Emiraten. � Seine deutsche Herkunft ist ihm angeboren, hier
hat er noch die Gräber der Eltern, die Geschwister, ein Bankkonto,
die Einzahlungen in die Rentenkasse, er liest eine große deutsche
Zeitung im Abo, er reist einmal pro Jahr hierher. � Was hätte man
ihm bei Beantragung des Kanadischen Passes angetan damit, daß er
den Deutschen Paß hätte abgeben müssen?
Das Herkommen bleibt bei uns, wo wir auch hinkommen. Uns allen schien
das Paradies in die Kindheit; der Kinder-Ort bleibt als Heimat bei uns.
Vielleicht, um im Alter wieder zu den Wurzeln zurückzukehren oder
um da zu Grabe zu kommen. Wohin es einen auch treibt, die Herkunft bleibt
einem treu. Und irgendwie man selbst der Herkunft. Wo man auch lebt und
teilhat an Sprache, Menschen, Gegenwart � wenn man das Land und seine Bewohner
liebt oder wenigstens achtet � so, daß man jetzt zu ihnen gehören
will, mit gleichen Rechten und Pflichten � warum sollte man zum neuen Land
nur gehören, wenn man dem Mutter/ Vaterland abschwört?
Mir scheint das Verdammen einer zweiten Staatsbürgerschaft schädlich.
Millionen Deutscher haben einen zweiten Paß � dürfen also sich
anderswo auch als Bürger fühlen � nur wir Deutschen (und Schweden,
Österreich), sollten auf ein Entweder/ Oder pochen? Weil Deutschland
so kostbar ist, daß es die Absage ans Herkommen verlangen kann, ja
muß? Hält die deutsche Nation sich für so großartig,
daß man ihr nur ganz oder gar nicht zugehören kann?
Menschen mit zwei Seelen in ihrer Brust sind doch geradezu wünschenswert.
Sie können vielleicht eins ins andere vom Herzen her dolmetschen.
Sie werden Botschafter der geschwisterlichen Menschheit. Darin trennen
Nationen, Geschlecht, Konfessionen nicht mehr. Gerade sind wir mit dem
Gemeinsamen Markt dabei auch die wirtschaftlichen Unterschiede anzunähern.
Wir werden in den benachbarten Ländern wohnen und Arbeit annehmen
können, werden nicht mal mehr Geld erst umtauschen müssen. Schon
wird der Ruf laut, daß wir bald keine Außenminister mehr brauchen.
Und da sollte es nicht möglich sein, in bestimmten Fällen großzügig
zwei Pässe zuzulassen. Und wenn ausländische Mitbewohner hier
schon lange leben, jetzt deutsche Bürger sein wollen, aber den Herkunftspaß
behalten wollen � weil sie noch Angst haben und Ausflucht behalten wollen
oder den alten Eltern die neue Nationalität nicht erklären können.
Ach, seien wir doch großzügig.