Traugott Giesen Kolumne 14.11.1998 aus Hamburger Morgenpost
Menschenfreundlich bleiben, unverprellt
Wen willst du in deiner Nähe haben � als Kollegen, Kameraden,
Gefährten, Geliebten? Je näher dran um so wichtiger, je länger
zusammen um so nötiger, daß er menschenfreundlich ist. Mehr
als du selbst? Da kommst du ins Grübeln. Erlebst du dich als schwierig?
Je schwieriger, um so bedürftiger bist du der Menschen mit dieser
schönsten aller Tugenden. Du kennst einen, zwei, vier mit dieser kostbaren
Aussteuer?
Menschenfreundlichkeit ist uns wohl als Grundstruktur eingewebt. Wie
die Verdaubarkeit von Weizen und das Vorhandensein von Wasser, so ist die
Bekömmlichkeit des Menschen für den Menschen als normal gegeben.
Als Ergänzung sind wir einander gedacht, als Mitbeter, Mitbeackerer,
als Gefahrenteiler � Gefährten; als Freud- und Leid-miteinander-Genießende
� als Genossen; als Kumpane, die das Brot (lat: panis) miteinander teilen.
Wir sind zwar entworfen auf Zusammensein hin aber sind nicht automatisch
sozial. Die Tiere besorgen sich instinktiv die passende Revierabgrenzung
� sie verdrängen. Wir Menschen müssen das Zusammenbleiben stark
gesetzlich ordnen, und Nächstenliebe will immer wieder frisch und
neu getan sein.
Auch uns geht es um Revierabgrenzung, um Anteil an Gütern und
Schätzen. Was ist meins, was deins, wer besetzt die fruchtbaren Plätze,
die pool-position der Meinungen, wer definiert was hier gilt; wer setzt
die Spielregeln fest, wer bestimmt die Musik? Wer baut die Waage, auf der
dann gerecht zugemessen wird: Lohn, Mühe, Beiträge, Strafen,
Freizeit, Nahrung, Aufmerksamkeit?
Menschenfreundlichkeit ist eine knappe Ressource. Wir bekommen mehr
als wir geben � das ist eins der Wunder des Lebens. Uns allen schien das
Paradies in die Kindheit, wir sind doch allermeist Kinder der Liebe, aber
Großwerden ist auch Austreibung ins Reich des Kämpfens und Konkurrierens,
der Schrecken und Ängste. Menschenfreundlich bleiben oder es nach
Zeiten harter Bandagen wieder werden � das ist Glück und Auftrag.
Hier einige Spuren in die Richtung:
Allein schon das schlichte gute Benehmen bringt Friedlichkeit, aber
es fordert die Einsicht in die Gleichwertigkeit des Nächsten. Beistehen,
nicht vordrängeln, ausreden lassen, dem Gegenüber sein Gesicht
wahren helfen, Schadenfreude sich verbeißen � welch ein Segen sind
die Menschen mit Kraft zur Freundlichkeit. Sie lassen den Vortritt, weil
sie des andern Gehetztsein spüren. Sie lassen Gnade vor Recht gelten,
weil sie selbst viel Großzügigkeit gebraucht haben. Sie haben
ein inneres Wissen: �Was du andern zufügst, das fügst du dir
zu; wir sind doch allerletzten Endes unablehnbare Geschwister�.