Traugott Giesen Kolumne aus Hamburger Morgenpost 31.10.1998
Reformationstag � Kirche muß sein
Natürlich bist du nicht mit Kirche zufrieden, bist du auch mit
Staat nicht, nicht mit den Straßen, nicht mit dem Gesundheitswesen,
nicht mit dem Fernsehen. Aber was tust du denn für diese Projekte?
Gemessen an deiner geringen Mitmachelust bei Kirche, ist es fast ein Gottesbeweis,
daß Kirche noch immer da ist.
Kirche muß da sein. Wer denn sonst pumpt Lebensmut in die Gesellschaft,
beschafft den Humus für viele gute Werke? Wer redet ins Gewissen,
etwa ausländische Mitmenschen gastfreundlich aufzunehmen? Wer erinnert
an die gemeinsame Verwandtschaft alles Irdischen, wer predigt die Ehrfurcht
vor dem Leben? Wer sagt uns Gott an, adelt uns als Kinder der Liebe, wagt
Ehen als vom Schicksal anvertraut zu feiern? Wer lehrt uns, das Sterben
als Heimkehr uns gefallen zu lassen? Wer mahnt zu Vergebung und Gerechtigkeit
und zum Verzicht auf Privilegien?
Außer Musik, Sonne, Liebesumarmung kenne ich keine leicht erreichbare
Quelle für Gottvertrauen und Nächstenliebe als die ganz normale,
schlichte, alltägliche Kirche, fast nebenan.
Mit Pastor, Pastorin, der Organistin, dem Hausmeister und vielen Aktiven
ist doch Kirche/ Gemeindehaus der gute Ort im Quartier. Und wenn du da
keine Gesprächsrunde findest, keine Kindergruppe, Altenkaffee, Hobbyclub
für Nachbarschaft, dann rede mit dem Kirchenvorstand, und du bekommst
Raum für deine Initiative. Und wenn es keinen Kaffee nach dem Gottesdienst
bei euch gibt, dann biete an, du nimmst das Treffen in die Hand, und spülst
auch nachher. Oder lade dir ein paar Gleichaltrige mit nach Hause, und
ihr kocht zusammen. Oder du hilfst den zugezogenen Rußlanddeutschen
zu anständiger Ausstattung ihrer Schlichtwohnungen.
Kirche geschieht � oder sie ist nicht. Dafür braucht es die �lebendigen
Steine�, so handfest werden die Christen in der Bibel mal bezeichnet: Es
braucht die aufgeräumten Menschen, die in der modernen Welt als �Briefe
Christi� gelesen werden.
Man wirft der Kirche zu viel Bürokratie vor. Aber mach das nicht.
Alle ersten Christen-Gemeinden sind bald wieder vom Winde verweht � nur
Rom hat überdauert durch frühe Klärung der Gemeindeleitung
und Aufbewahr der Briefe des Paulus und dann der Evangelien. Spontaneität
ist kostbar, aber es muß klar sein, wer die Schlüssel hat. Beten
kann jeder zu jeder Zeit und die Bibel auslegen auch. Aber im Namen von
Christlicher Kirche sagen, was jetzt dran ist, das braucht die Weisheit
der Religionen und Hören auf Gesamtkirche und deren Berufung.
Spirituelle Heimat, energiegeladenes Reservoir an Lebensmut und Menschentrost
ist Kirche. Sie braucht nur mehr Fordernde, Drängende, braucht Hungrige
nach Heiligem Geist, mehr Sehnsüchtige, Wache wie du und ich.