Traugott Giesen Kolumne 05.10.1998 aus Hamburger Morgenpost
Erntedank. Das Leben geht weiter
Es gibt Augenblicke in unserm Leben, da zerfließen die Gewißheiten.
Dein Lebensboot scheint dir vor lauter Ozean glatt verschlungen zu sein.
Dann hilft das Erinnern an Noah.
Noah war ein herrlicher Abenteurer im Haus Gottes � er hat seine Burg
bei sich, seine Arche, voll Kreaturen, die auch leben wollten, aber ringsum
nur Wasser. Sie gleiten dahin, Noah und seine Frau, in ihrem Kahn mit Riesengepäck
und so viel Verantwortung, die Genbank der ganzen Schöpfung war ja,
im Bild des Zoos, mit bei ihnen. Endlich scheinen die ertränkenden
Wasser der Sintflut zu sinken � es regnete schon länger nicht mehr
� aber lange ist kein Land zu sehen. Da ließ Noah einen Raben fliegen.
Er kehrte alsbald zurück, er hatte keinen Landeplatz gefunden. Später
ließ er eine Taube fliegen, die kam mit Ölzweig wieder, also
wächst schon wieder was. Wochen später ließ er eine zweite
Taube los, die kam nicht wieder � das Wasser sank wirklich � die Erde bleibt
Haus des Herrn. Und ein Lachen, ein Jauchzen, ein Feiern hob an auf der
Arche. An den Regenbogen wurde dann von Gott das Versprechen gehängt:
"Es soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und
Winter, Tag und Nacht." Wir haben Brief und Siegel: Das Leben geht weiter
� auch nach dieser Erdenzeit. "Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden"
(H. Hesse). Das glauben: Auch wenn nur Ozean rundum scheint, sind wir doch
in Gottes Hand. Das Segel "Zuversicht" halte hoch wie Noah!
Sonntag war Erntedank, ein Oasentag, Festzeit des Dankes. Da wurden
die Altäre geschmückt mit Garben der Felder und Gärten.
Ein Stück Gedächtnis ist gestiftet dem Schöpfer. Bedacht
ist, wie fruchtbar die Natur gemacht ist, und wie wunderbar wir Menschen
die Güter der Erde verwandeln können. Bedacht soll sein auch
die Fülle des Lebendigen. Das Glück der Farben und Formen wird
gesehen und benannt. Sinn für Schönheit und Liebe ist uns eingetrichtert,
der Wille zu wirken uns eingeprägt. Und die Energie des Lebendigen
will uns, dich, mich � das muß gefeiert werden. Wir dürfen noch
hiersein, noch Arbeit tun und Ernte einbringen.
Am Tage des großen Sieges der SPD brach für andere ihr gewohntes
Lebenshaus zusammen. Die Treuesten des Helmut Kohl waren versammelt, die
Minister von seinen Gnaden und Damen und Herren aus der Beamtenschaft,
seine nächsten Mitarbeitenden und Helfenden. Sie alle sahen auch ihr
persönliches Lebensschiff schwanken, hielten sich von Stund an für
verworfen und brotlos. Und da, als der scheidende Kanzler seine Niederlage
eingestand und fair dem kommenden Kanzler Erfolg wünschte, da sah
er auch die Enttäuschten und Gekränkten und rief ihnen zu: "Das
Leben geht weiter" � auch das ein Bild für Erntedank.