Traugott Giesen Kolumne 05.09.1998 aus Hamburger Morgenpost
Zur Selbstverneinung viel zu schade
Du begreifst selbst nicht, warum du dich zerstörst � ob mit Fressen
oder Saufen oder Dich-mißbrauchen-lassen oder mit Drogen. Du nimmst
dein Kaputtgehen in Kauf; Hauptsache, meinst du, du spürst dich eine
kurze Strecke lang high, aktiv, dramatisch. � Für diese kleine Strecke
perversen Hochgefühls nimmst du den Absturz in Kauf, die lange Reise
in die Finsternis, die selbstgemachte Hölle.
Du sagst, da spürtest du dich wenigstens. Aber wie viel mehr spürst
du dich, wenn du in Wut gerätst über deine Selbstzerstörung.
Ist nicht schon dein Exzeß eine einzige große Wut auf dich,
so blöd zu sein? Sieh das doch mal so: Du bestrafst dich, du quälst
dich für deine Suche nach Glück am falschen Ort, durch schädliche
Mittel.
Aber du hast eine Chance. Du weißt um dein Verrücktsein.
Die Maßstäbe sind dir wirklich verrückt, verrutscht. Dein
Leiden ist kein Verhängnis, von irgendwelchen Mächten dir aufgedrückt.
Du selbst hast damit angefangen, erst hast du gespielt, dann hast du Geschmack
dran gefunden. Du hast es genossen, mit deiner Freß- und Hungerarie
die Eltern oder sonstwen unter der Fuchtel zu halten. Du hast es chic gefunden,
von deinen Kameraden als cool geschätzt zu werden. Du hast endlich
ein Thema gehabt, was Eigenes, du hast die Langeweile abgeschüttelt
mit diesem Tanz auf dem Vulkan � und meintest lange, die Sache zu meistern.
Oder du hast es vorgezogen, dich außer Kraft zu setzen; wolltest
nicht mehr zuständig sein, wolltest wieder kleines Kind werden � �und
Mama wird�s schon richten, gehört zu ihren Pflichten.�
Aber was bis eben war ist eins, und was du daraus machst ist ein anderes.
Was bis eben war, ist, was es ist. Aber jetzt ist Neuland, jetzt ist ein
anderer Mensch, jetzt ist die erste Sekunde vom Kontinent �Du in Zukunft�.
Jetzt machst du es anders. Du weißt, du tatest, was du nicht willst.
Jetzt auf der Stelle tust du endlich, was du wirklich willst.
Du willst lieben und geliebt sein. Du willst geben und nehmen. Du willst
dich nicht mehr hassen. Mensch, das Leben hat sich so gemüht, dich
bis hierher zu bringen. Du wärest längst tot, wenn du nicht gewollt
wärest, noch hier für jetzt, für diesen Sprung ins Neue
Sein. Das Leben (oder nenn es Gott) hat so viel vor mit dir, sonst wärst
du doch mit deiner Rücksichtslosigkeit gegen dich schon längst
hinüber. Du hast eine riesige Power, nur hast du sie bisher zum Scheitern
genutzt. Du hast eine große Sehnsucht � schütt sie dir nicht
mehr zu, sondern leb sie. Taste dich wieder an Menschen, lache sie an,
rede sie schön. Es sind welche, die haben was falsch mit dir gemacht.
Aber jetzt machst du Deins, jetzt betreibst du deine Zukunft. Gelinge dir,
Werdemensch.