Traugott Giesen Kolumne 27.06.1998 aus Hamburger Morgenpost
Leben wollen
Auch das Frühgeborene mit nur halb soviel Gewicht wie normal nimmt
die ersten Tage noch ab. Laktose wird ihm eingebracht, und Muttermilch
tropfenweise eingeträufelt mit Pipette. Ob es diese annimmt und verdaut,
das ist die Frage. �Leben wollen muß das Kind, sonst kann ihm keiner
helfen� � sagt die Schwester � und legt die Handvoll Mensch auf die Waage.
Sie verkündet den Sieg: �Dreißig Gramm hat es dazu gewonnen,
jetzt ist es über den Berg.�
Aber was macht uns lebenswillig?
Der Mensch muß essen wollen, der Mensch kann vor vollem Kühlschrank
verhungern, wir müssen nicht leben müssen. Eine Flamme Ichlust
muß uns nach Sauerstoff gieren lassen, ein Fädchen Gespür
für mich muß in uns Feuchtes aufsaugen, ein Fühlen muß
Behagen an Wärme haben, ein Ohr muß Vertrautes wiedererkennen
und mehr davon haben wollen, ein anfangendes Ich muß Freude merken,
daß andere es wollen.
Wenn das Kindlein auf dem Bauch seiner Mutter ruht und dann aufgehoben
wird, daß es wieder in sein Wärmebettchen kommt � wenn es dann
jammert, ist doch schon alles gewonnen. Leben wollen ist Wärme wollen,
Sympathie wollen, Mitfühlen; Haut, die sich wie man selbst anfühlt.
Und daß dies kleine Wesen all das will und noch viel mehr, ist
Glück, Gnade, Wunder; ist ein Fest wert und Dank, Dank. Und wir Mütter,
Eltern, Großeltern, Tanten, wie fiebern wir den Lebenszeichen entgegen.
Jedes Kindlein ist doch ein Versprechen einer neuen Welt. � Und all die
Männer, Frauen, Paare, die sich nach Kindern verzehren, wie beten
sie um gute Fügung. Und die einen lieben, der auf Leben und Tod liegt,
wie halten sie ihm die Hand, wollen ihm Lebenswillen wie Blut spenden.
Und wie kämpfen die Ärzte, Schwestern, Rettungssanitäter
um die zuckende Lebendigkeit in ihnen völlig fremden Menschen. Nie
sind wir uns so verwandt, wie dann, wenn das Lebendige in einem von uns
zu erlöschen droht.
Sicher gut, daß unsere Erdenzeit endet. Doch laßt uns nicht
voreilig weg wollen, lassen wir keinen ziehen, bevor seine Zeit reif ist.
Jedes Leben wird mal schwach, aber meist, um stärker zu werden. Geben
wir einander Rationen Zuversicht; zeigen wir dem bedrohten Menschen, daß
wir ihn lieben; Liebe ist ja die Sehnsucht, im andern sich zu fühlen.
Das ist nicht unsere Erfindung, sondern wir sind Erfindung dieses Sinns.
Das Herz aller Dinge will im andern sich fühlen, darum ja ruft Gott
das Nichtseiende ins Sein, setzt Seelenfunken aus sich raus und gibt ihnen
irdische Gestalt und Lebenswillen. Aber wir schauen nicht dahinter. Lieben
wir das Leben, solange wir dürfen.