Traugott Giesen Kolumne 30.05.1998 aus Hamburger Morgenpost
Staunen macht reich
Nachsinnen, nachdenken, sich verwundern, überrascht sein, staunen
� das ist was Kostbares; es macht dein Leben intensiv. Beim Autofahren
sollten Überraschungen ausbleiben: �Achtung, das Ende des Staus liegt
hinter einer Kurve� � die Verkehrsmeldung ist fürsorglich, sie bereitet
uns vor, daß wir wissen, was auf uns zukommt. � Aber an Haltestellen
staune gern. Schaue in die Gesichter, laß sie auf dich wirken, lies
in ihnen. Spüre das Wohlgefallen, das in dir aufgeht beim Betrachten
des zufriedenen Kindes; bemerke das Kribbeln, welches winkende Augen bescheren;
registriere auch Erschreckendes � wie etwa die ans Drangsalieren gewöhnte
Stimme Unbehagen verbreitet.
Und staune auch über dich selbst, daß du bist wie du bist.
Du hast ein ungeheures, wunderbares Puzzle im Kopf, es ist dein Weltbild,
deine Sicht der Dinge � und die paßt einigermaßen zusammen
mit den Ansichten deiner Nächsten � darum können wir ja miteinander
auskommen, einigermaßen; das ist ganz und gar bewundernswert, wo
doch allein in deinem einen Kopf schon viele Wünsche rivalisieren.
Oder hast du gerade eine Meinungsverschiedenheit mit deinem Liebsten, die
euch in Rage bringt? Du willst nicht schuld sein � läßt du ihn
darum miese dastehen? � Wenn du euch mal eben zuhörtest wie von außen,
dann könntest du das Staunen lernen; laß dir schenken, daß
die Selbstverständlichkeit abhanden kommt. Und du merkst, daß
ihr wieder mal in die Wunde des andern genüßlich-dösig
reingefuchtelt seid. Und du kannst heilende Worte finden, weil du erkannt
hast.
Staunen macht dein Leben reich. Wenn du abgebrüht, gelangweilt,
cool die Dinge an dir abtropfen läßt, und du dem Leben bei jedem
neuen Angebot nur antwortest: �Na und?�, dann kannst du wirklich einpacken.
Dann mußt du wohl mal so gegen die Wand knallen, daß du zur
Besinnung kommst: Leben ist kein Hobbyladen, und die anderen sind nicht
dazu da, dich zu bespaßen.
Die Wadenkünstler der Bundesliga bestaune ruhig, aber finde darüber
auch deine Power wieder; die Bäume, die Natur bestaune � nimm sie
dir als Fingerzeig, daß der Atem des Lebendigmachens immer noch bläst.
Staune, daß einer sich zum Bettler hinabbeugt und die Münze
lautlos einlegt, als bedanke er sich für die Gelegenheit, Gutes zu
tun; und du wirst einen Tick großzügiger. Bemerke die Energie
des Kollegen, der sich das Rauchen abgewöhnt hat, und sei wieder neugierig,
was noch in dir steckt.
Weißt du, daß du auch zum Staunen bist? Wenn du heute einen
Menschen stutzig machst, ihm eine Blume in die Hand legst oder ein anerkennendes
Wort ihm schenkst, ihm eine Last mitträgst, dann findet er dich erstaunlich.
Und das erfrischt dich, wetten? Das Staunen hat ein Fest: Pfingsten � Heiliger
Geist beatme dich.