Kolumne 10. September 2005
Traugott Giesen Kolumne 10.09.2005 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Jeder ist die Mitte des Systems
Hat dich einer sehr gekränkt und du willst ihn nicht wiedersehen, und
kannst das einrichten, dann richte es ein. Und sieh, wie es dir damit geht.
Sieh, ob Ruhe in dir einkehrt. Und er Ruhe gibt.
Eine schöne Geschichte von uns Schwierigen macht Mut, auseinanderzugehen,
wenn man sich zusammen mehr schadet als nützt: Der Glaubensvater Abraham
und sein Schwager Lot bekamen Streit, ihre Hirten gerieten öfter aneinander,
über Weiderechte und das knappe Wasser. Da sagte Abraham: Wir wollen
uns trennen, willst du zur Rechten gehen, gehe ich nach links, willst du
zur Linken, geh ich nach rechts (1. Mose, 13.9).
Nimm nicht übel, wenn einer mit dir nicht reden will, nicht
grüßt, um dich einen Bogen macht. Ihr könntet zu verschieden
sein, verstärkt nur eure negativen Seiten. Er hat es eher wahrgenommen
als du. Doch das "Fehlen jeder wahrnehmbaren Wärme" bemerktest du auch
schon. "Ihr könnt euch nicht ändern, ihr könnt euch nur
stören", sagte Franz Kafka für solche Fälle.
Aber Trennung wäre dir Niederlage? Liegen so große Erwartungen
auf dir von Vorbildern, die auch verzichteten und Harmonie wollten, auch
wenn sie immer zusetzten. "Was würde Mutter dazu sagen, was die Nachbarn,
was die Tanten?" Hörst du es noch? Das war früher. Du bist ein
Anderer. Sprenge deine Fesseln. Besser: Sieh, da sind gar keine Fesseln.
Du hältst dich nur für angebunden.
Kennst du die Szene, wie ein Mensch an die Telefonzelle wummert: "Ich will
hier raus" und drückt und drückt. Bis ein Passant stehenbleibt
und ruft: "Die Tür geht doch nach innen auf!"
Erlaube dir mal so zu denken: Jeder ist die Mitte seines Systems. Jeder muß
sehen, daß er seinem System entsprechend glücklich wird. Das Recht
steht dir zu, wie es auch andern zusteht. Nimm du dir erst mal die Zeit,
nachzudenken, was für dich gut ist. Und laß davon ab, für
die anderen vorauszudenken mit dir als dienendem Glücksbeschaffer.
Merk endlich auf, was für dich gut ist. Und bedenk den Preis. Welche
Fürsorge gehört zu dir. Und sink nicht sofort zurück: "Es
hat ja doch keinen Zweck, lohnt nicht die Mühe, ich kann die andern
nicht enttäuschen." Doch, ja, das kannst du. Du mußt nur wissen,
was du willst. Dazu mußt du dich ernst nehmen, du bist der Rede und
des Glückes wert. Du hast immer noch genug soziales Gewissen, auch wenn
du dich jetzt mehr mit im Blick hast.
Mal dir aus, wie du dir ein Leben einrichtest, wie du es haben willst; das
sind die ersten Schritte auf das Ziel zu. Wenn du einen Hund haben
möchtest, geh ins Tierheim und schau dir welche an. Willst du einen
Garten, freunde dich mit Schrebergärtnern an, frag, wo ein Älterer
nicht mehr allein kann. Wenn du von dem Menschen an deiner Seite immer mehr
wegdriftest, dann entwickle für dich und dann mit ihm eine Strategie,
wie ihr fair auseinanderkommt. Zu deinen sozialen Verpflichtungen stehe.
Aber du selbst mußt gern Du sein, das ist das Wichtigste.