Kolumne 12. März 2005
Traugott Giesen Kolumne 12.03.2005 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Jeder hat ein Recht auf Hilfe
Anfangs schlug der Starke so lange auf den Schwachen ein, bis er keine Lust
mehr hatte. Er rächte in seiner Mordlust siebenfach, mal mehr, mal weniger.
Dann kam eine Offenbarung über die Menschheit, und zwar in Israel: statt
willkürlicher Rache die maßvolle Rache - Auge um Auge, Zahn um
Zahn. Schlägt dir einer ein Auge aus, darfst du ihm höchstens auch
eins ausschlagen, klaut dir einer ein Schaf, muß er dir eins
zurückerstatten. Das ist die große Rettungstat, weg von der Gewalt
hin zum Recht. Wie du mir, so höchstens ich dir, mehr nicht. Immer
ziselierter wurde die Rechtsprechung, um das Gleichgewicht von Unrecht und
Strafe zu ermitteln.
Dann kam die zweite Offenbarung, auch in Israel, Jesus brachte sie: Du kannst
auch auf dein Recht verzichten, kannst, sollst sieben Mal, siebzig Mal verzeihen:
schlägt dich einer auf die rechte Wange, biete ihm auch die andere.
Will dir einer deinen Rock nehmen, so gib ihm auch den Mantel. Und wenn du
so großzügig bist, dann bist du in guter Gesellschaft: Der himmlische
Vater läßt die Sonne scheinen auch für die Bösen und
läßt regnen auch für die Ungerechten.
Aber wir sind längst nicht so vollkommen gut und ganz wie Gott. Wir
sind noch auf dem Weg von der Gewalt zum Handel, und nur die Liebe schafft
manchmal Vergebung und Neuanfang. Wir nutzen immer noch unsere Macht. In
der Schule nimmt einer dem andern den Kuli weg, und der sieht rot und wirft
des andern Rucksack aus dem Fenster. Ein neues Fach in der Schule ist
Streitschlichten. Wie kann man an Zerstörung die Lust verlieren, wie
das Beleidigen lassen, wie Fairneß lernen, also das Gleichgewicht der
Achtung bewahren? Warum ist Zerstörlust stark, Prügellust, Klaulust?
Lieber täten wir was Schöpferisches, lieber würden wir
gestreichelt, lieber verschenken wir doch als zu klauen, jedenfalls kaufen
wir doch lieber und sind zahlungsfähig als zu stehlen. Wir müssen
auf diesem Vorschuß des Guten bestehen. Natürlich können
wir zu Schlächtern dressiert werden, Hitler hatte so einen Wahn von
den "blonden Bestien". Natürlich kann man "Klaukinder" abrichten mit
Angst und Gewalt.
Aber die das tun, werden nicht in Ruhe und Frieden alt. Der Vorschuß
des Guten muß gefördert werden.
Wenn Eltern friedfertig miteinander umgehen, und sich selber Grobheit nicht
durchgehen lassen, dann lernen die Kinder auch, auf dem Richtigen zu bestehen.
Werden aber Kinder Zeuge, wie Erwachsene tatenlos zusehen, daß ein
Mensch verprügelt und getreten wird - die Großen müßten
doch schamrot werden. Wenigstens per Handy einen Notruf absetzen und ausmachen,
daß man den Tätern von Ferne auf der Spur bleibt und den jeweiligen
Standort durchsagt. Oder auf die Schläger zugehen und sie ablenken,
oder das Opfer freikaufen, oder die Notbremse ziehen oder "Alle Männer
mir nach" und los. Nur ja nicht dürfen unsere Kinder uns als feige erleben,
wie sollten wir denn sonst hoffen, daß uns in der Not geholfen würde.
Wie sollen wir in der nächsten Generation verankern, daß in der
Not ein jeder Recht auf Hilfe hat? Doch nur so, daß wir zeigen: der
in Not hat ein Recht auf mich als Helfer.