Kolumne 5. März 2005
Traugott Giesen Kolumne 05.03.2005 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Wieder ganz neu hinschauen lernen oder: Wegschauen kommt direkt nach
Mord
Ein Kind verhungert mitten unter uns. Erst ist es gefangen gehalten, dann
von den Eltern gezielt ausgehungert und verdurstet gemacht. Die deutsche
Sprache weigert sich, das so zu sagen. Es kann nicht sein, sein eigenes Kind
durch Nahrungsentzug zu ermorden. Und doch ist es geschehen.
Kann Unmenschlichkeit so tief in den Keller gehen? Wenn Unmenschlichkeit
noch einen Abgrund tiefer reicht, dann muss die Menschlichkeit noch
hellhöriger, noch tatkräftiger, noch dringender werden. Wenn das
Entsetzliche ins Normale einbricht, muß die stellvertretende Verantwortung
aufstehen und kraftvoll werden.
Die soziale Kontrolle war mal streng. In diesem ehrenwerten Haus
hatten die Wände Ohren und Nachbarn tuschelten Gehässigkeiten.
Diktaturen lassen ihre Untertanen sich gegenseitig in Schach halten. Bei
Hitler wäre so was nicht passiert- natürlich nicht, weil
jeder Blockwart in die Wohnung spazieren konnte: Man hatte doch vor dem Auge
des Volkes nichts zu verbergen; man hatte den Großen Bruder zum Freund
zu haben. Inzwischen lernten wir die Verantwortung des Einzelnen zu achten.
Der einzelne ist der Gesellschaft gegenüber nicht für seine Handlungen
verantwortlich, solange deren Folgen nur ihn selber und keinen anderen betreffen
( Jon Stuart Mill). Freiheit ist groß geschrieben. Wenn eins die Eltern
heute gelernt haben, dann, sich nicht einzumischen bei den erwachsenen Kindern.
Ihre ehe, ich Erziehen ist ihr Ding. Und warten, bis die Kinder, Enkel
selbst darauf zu sprechen kommen. Früher war die Kleinfamilie noch
eingebettet in behütende Obhut. Das entlastete und bevormundete zugleich.
Heute haben wir eine Kultur der Nichteinmischung. Jeder ist für sich
allein, anonyme Hilfestellen können in der Not angefunkt werden. Oder
eben auch nicht.
Es gibt Menschen, die wissen nicht was sie tun. Sie sind hilflose
Person, unzurechnungsfähig, überfordert in ihrer Freiheit,
sie können nach Außen noch lange den Schein waren, aber sie senden
Zeichen, daß ihnen ihr Leben aus dem Ruder läuft, sie innen und
außen verwahrlosen. Da ist unser aller Wachheit gefordert. Wenn der
Briefkasten überquillt oder man beim Türöffnen gestapelte
Mülltüten bemerkt oder üblen Geruch, oder Bestelltes über
Bestelltes kommt. Oder Gesichter zerschlagen sind oder viel geweint wird.
Dann ist Gefahr. Du, ich, wir müssen tätig werden, müssen
uns rühren lassen. Direkt nach Mord kommt unterlassene Hilfeleistung.
Wir müssen nicht selbst Hand anlegen aber alarmieren, das müssen
wir.
Nehmen wir Jessicas traurigen Tod zum Anlass, unseren nächsten und
übernächsten Nachbar noch mal wahrzunehmen. "Ich möchte wissen,
mit wem ich in einem Haus wohne, und will, daß sie mich kennen- für
den Fall der Not und wenn es was zu feiern gibt." Mit solch einem
Satz knüpf noch mal was an. Und es gibt Unglücksgeschöpfe,
es gibt Verfluchte. Sie müssen entdeckt werden, damit sie vielleicht
noch geheilt werden können.