Kolumne 5. Februar 2005
Traugott Giesen Kolumne 05.02.2005 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Sehnsucht nach Berührung
Angebufft wird man öfter, an der Kasse, beim Drängeln zum Ausgang
im Kino, in der Bahn. Es gibt eine Zwangsnähe, die lässt Stacheln
wachsen, die Augen schauen zu Boden, nur ja soll der Zunahestehende nicht
meinen, mir wäre diese Enge angenehm. Auch im Flugzeug sitzt man sich
zu dicht auf der Pelle. Aber wann war denn die letzte schöne
Berührung? Wann gelang eine köstliche Nähe und mit wem? Wir
brauchen doch Streicheln und daß einer uns gut riechen kann. Hast du
nicht genug entbehrt und könntest mal wieder lieben, dich lieben lassen?
Mal wieder wen streicheln, daß Freude ist.
Eigenartig, unser größtes Organ ist ja die Haut. Mit der
schließen wir uns ab nach außen und docken am andern an. Mittels
Haut sind wir getrennt und können auch eins werden. Berühren wir
uns an den Händen oder küssen uns, dann wird aus dem zweifachen
Kreislauf ein einziges Gewoge. Zum Glück kommen wir wieder von einander
los, zu lange halten wir das Einssein nicht aus. Aber einig sein, eine Spanne
weit Haut an Haust sein , ist ja viel genug. Hast du einen Menschen, mit
dem du Einigkeit herstellst, immer wieder? Immer wieder mal? Dann bist du
ziemlich gut dran. Denn Nähe geben, Nähe genießen, schützt
die Welt vor Erkältung. Mit einem bist du nicht verloren, rettest du
einen, rettest du die Menschheit, mit einem baust du die Kugel, mit einem
gestaltest du ein Ganzes. Damit gibst du der Liebe Gestalt und Schöne,
bildest das Göttliche ab. Berührtsein ist was Großes. Auch
Worte, Bilder, Klänge, Schicksale, Gesichter können uns bewegen,
können uns teilnehmen lassen. Wir werden eingelassen in eine andere
Welt, die Wirklichkeit bekommt mehr Tiefe. Werden wir weise? Werden wir mehr,
mehr wir selbst? Einer rührt uns an und wir spüren uns mehr, auch
den andern, aber vor allem ich mich. Die Seele tanzt auf der Haut. Ich
weiß: Ich bin nicht allein, weil es dich gibt.
Auch Ideen können uns berühren, Träume uns beflügeln.
Leid wenden ist das Rührendste überhaupt. Nicht schwaches Mitleid
sondern Compassion, Mitleiden; nicht blasses Mitgefühl sondern
Mitfühlen, unter seine Last treten, Compagnon werden, (cum pane) das
knappe Brot teilen. Unermesslich dann, das Gott nicht nur die Erde berührt,
sondern Fleisch wird, Mensch wird, uns nicht nur streift sondern uns trägt.
Keiner ist unberührbar, nichts verloren- jedem ist ein Kreuz, das
große Pluszeichen- auf die Stirn gezogen. Lösen wir einander das
Zugehören zum Gutenganzen ein? Jedes tröstende Wort lindert, jede
Einladung ins Kino hebt Selbstzweifel auf, jedes Mitsingen im Chor macht
mich spüren, daß meine Kraft den ganzen Sanges-Körper
stärkt. Jede Arbeit, die anderen nützt, macht ja, daß andere
mir auch von Nutzen sind. Jede Hand auf die Schulter macht Mut, jede Umarmung
läßt Erstarrung schmelzen. Jedes Zusammentun bessert. Jeder noch
so flüchtige Kuss ist ein Segen.