Kolumne 27. März 2004 -
Du sollst dich nicht vorenthalten
Traugott Giesen Kolumne 27.03.2004 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Du sollst dich nicht vorenthalten
von Traugott Giesen
Brich dem Hungrigen dein Brot, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut, heißt es in der Bibel - und nicht zum Aushalten direkt: "Wer sich erbarmt, der leiht dem Herrn." Klar, was von mir zu tun ist: Ich soll mich ausgeben. Dazu muss ich aber auch einnehmen, muss mich wissen als Besitzer; brauche Vertrauen, dass für mich gesorgt ist.
Woher das nehmen? "Armut und Reichtum gib mir nicht, aber meinen bescheidenen Teil Speise lass mich finden", lautet Sprüche 30,8. Frage an dich und mich: Sind wir schon in Not, das Nötige nicht zu haben? Dann bleibt uns nur die harte Schule des Bittens und des Andienens. Manchmal sieht man Bettelnde in der Fußgängerzone kniend; eigentlich fürchterlich, dass Menschen sich so klein machen. Man ist geneigt, einen Trick darin zu wittern. Aber jeder Bettler ist am Rande seiner Würde. Wir alle, die aussterbenden Beamten mal am Rande gelassen, müssen raffinierter sein im Geldschöpfen als die Menschen, die die Gabe nicht geben wollen.
Kein Wunder, dass die klamme Kirche jetzt in Fundraising ausbildet, um Geldquellen zum Sprudeln zu bringen. Aber es helfen auf Dauer keine Kniffe. Es hilft nur eins: Brich dem Hungrigen dein Brot, und entzieh dich nicht. Auch Kirche, gib von deinen Schätzen: Säe Vertrauen, Gemeinschaft, Trost, Mut, baue Netzwerke der Nachbarschaft. Und du, Christ, entzieh dich nicht deinem Gefährten und Nächsten. Du leihst damit Gott. Sensationell finde ich dieses Beispringen; wir sollen Gott unterstützen. Er ist letztlich zuständig für das Glück seiner Menschenkinder; aber er braucht uns, damit er diesem seinem Beruf nachkommen kann.
Täuschen wir uns nicht, wir wissen selbst, dass wir eigentlich nur Pächter sind, uns sind die Gaben anvertraut, wir werden einmal gefragt werden nach der Verwendung. Unsere Begabungen gehören doch mit zur Werkzeugkiste des Herrn. Die Erfolge einsacken, die Schäden abwälzen - du weißt, dass es nicht funktioniert. Also du hast das Vertrauen, dass für dich gesorgt ist, auch mittels deiner Vernunft, deines Augenmaßes, und auch dank einer Gesellschaft, die von weitem noch, schon, noch, schon eine karge Solidarität praktiziert. Du empfängst dein tägliches Brot heute und erheblich mehr. Ein ganzes Teil Angst vor knapperen Zeiten sind die Schulden für vorher, wir wissen das. Es bleibt nichts anderes übrig als im Rahmen eigener Kräfte mitzuschaffen am gemeinsamen Guten. Du sollst dich nicht vorenthalten, ist die klare Lektion. Auf dich kommt es mit an, was jetzt wird. Es ist fesselnd zu sehen, wie alle unter schlechten und verstopften Straßen leiden, alle unter der Bildungs- und Klimakatastrophe; je mehr wir haben, desto begehrlicher schauen Diebe nach uns. Eine Insel ist keiner. Also mit wem bist Du heute zusammen, was wagst du, was bringst du ins Rollen? Du bist mit dran.