Kolumne 6.März 2004
Traugott Giesen Kolumne 06.03.2004 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Erst mal leben - und dann das Abenteuer, alt zu werden
Mal hinlegen und nicht mehr aufwachen, das wäre schön - aber nicht
gleich morgen, sagt die alte Dame und isst ihr Möhrenmus mit Hingabe.
Es ist ein Abenteuer, das Altsein, Altwerden. Einer fasst zusammen: Wer das
Altsein von fünfundsechzig bis achtzig erträglich genüsslich
erlebt, der muss dann die Greisenmühen geballt ertragen. Klar, durch
medizinische Lifter und fittere Lebensart werden viele viel älter und
auch die Tage, Monate, Jahre, die nicht gefallen, ziehen sich. Doch, ich
freue mich über so manchen Menschen, der zäh an seinem Leben
hängt und den Himmel noch aufschiebt.
Riesig, die gern selbst für sich sorgen. "Selber, selber" ist eins unserer
ersten Worte; sich selbst noch passen können, diese Leidenschaft hält
den Tag voll und das Leben in Gang. Herrlich, noch den Partner an der Seite
zu haben; nie will man ihn lassen. Wenn aber Abschied genommen sein muss,
möge sich die schwarze Trauer in ein buntes Band des Erinnerns färben.
Lebenswille möge sich neu einstellen mit einem ganz klein wenig bockigen
"Ich bleib noch ein bisschen". Dann ist die Zeit der langen Weile, wo man
das Gras und alles Schöne in der Natur wachsen hören kann und die
Urenkel (auch die "Angefütterten" aus der NachbA****aft) kommen sieht,
wie sie köstlich und mühsam immer mehr sie selbst werden. Dann
kann man seinen Rhythmus finden, ganz auf sich selbst eingestellt, und fernsehen,
bis alles Interesse für heute erloschen ist. Dann kann man endlich essen,
wann man will und tragen was, man will. Dann kann man sich herrlich aufregen,
wenn liebe Menschen, auch Kinder, es wohl meinen, und einen in ein sehr betreutes
Wohnen umtopfen wollen. Irgendwann muss das sein. Aber eigentlich kann man
doch nur sagen: Irgendwann kann es sein, dass man zu Hause nicht mehr allein
kann. Und dann, wenn alle Bewegungsfreiheit und Wünsche gnädig
klein geworden sind, dann - wie viel Erde braucht der Mensch - wird ein Platz
in einem behüteten Haus bereitstehen.
Wichtig: erst mal leben, jetzt, heute, morgen. Jetzt Menschen in der Nähe
haben, die helfen, möglichst gegen gute Bezahlung. Jetzt freundschaftliche
Nächste - aber Nähe und Abstand noch selbst regeln können.
Nicht versiegen möge die Lust auf Menschen. Die Kunst ist, sich mitzufreuen
an anderer Leute Leben. Kann man noch raus, ist ein Glücksort doch der
Spielplatz - wenn man noch lesen kann, und täglich ein neues Kinderbuch
mitbringt (kann ja aus der Bibliothek sein) wie leicht wird man Oma, Opa
vom Viertel.
Aber die Neugier schwindet - verengt sich jedenfalls auf die Allernächsten
- es kann auch ein Hund sein, nicht schlecht auch eine Katze. Genüsslich
sollte man sein Frühstück einnehmen, jeder Bissen mit Andacht,
viel trinken sowieso. Und wenn der Trieb, etwas zu erzeugen, auch schwächer
wird, sieh irgendwas wachsen in deiner Nähe, vielleicht deinen Baum
im Jahreswechsel. Sagte doch der Maler Monet den Journalisten, die ihn zum
80. Geburtstag fotografieren wollten: "Nehmt meinen Garten auf, der sieht
mir ähnlicher als ich."