Kolumne 11. Oktober 2003 -
Mit anderen weinen, heißt Mensch zu sein
Traugott Giesen Kolumne 11.10.2003 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Mit anderen weinen, heißt Mensch zu sein
Bitterlich weinte Petrus, als ihm der Hahn nachkrähte und er seines
Verrates innewurde. "Meine Tränen sind meine Speise", klagt ein Frommer
in der Bibel. Stark klingt die Verheißung: "Gott wird abwischen die
Tränen von ihren Augen und es wird kein Leid mehr sein, in neuem Himmel,
auf neuer Erde." Und knapp und klar: "Die mit Tränen säen, werden
mit Freuden ernten!"
Also Tränen haben Würde. Auch Jesus weinte, und Odysseus, der antike
Held: Als er nach viel Krieg endlich heim wollte zu seiner Frau Penelope,
wurde ihm noch ein Umweg durch die Hades-Hölle aufgezwungen; da weinte
er, als bräche sein Herz vor Betrübnis.
Wenn es uns hinreißt, wenn die Tränen aus uns stürzen oder
wir die Nacht lang in Kissen schluchzen, dann ist was im Gange. Nur wenn
die ungeweinten Tränen in uns sich zur Salzsäule türmen, weil
wir bitter leer in die Vergangenheit starren, dann sind wir gebannt. Weinen
dagegen ist das Fruchtwasser der Seele, weinend verflüssigt sich ein
Eisblock in uns. Ob Demütigung oder Gewalt uns traf, Schuld oder Verlust,
durch Weinen kann etwas in uns auftauen oder wird erst gar nicht zum kalten
Klotz.
Tränen sind die Wahrheit. Wir müssen fragen: "Warum weinst du?"
Und werden nicht mehr schnell ein Papiertaschentuch reichen, als wollten
wir sagen: So ein Ungeschick passiert schon mal. Sondern wir werden still
bei dem Weinenden bleiben, bis sich aus den einzelnen gepressten Wörtern
ein Erzählstrom bildet.
Auch kurzes Weinen kann gut tun, aber langes Weinen speist sich aus dem tiefen
Brunnen der Vergangenheit. Tränen haben eine Fracht zu befördern,
die raus muss, damit neues Leben blühen kann. Ruft man sich immer wieder
schnell zur Ordnung, versiegt der Tränenstrom, und die Last bleibt im
Vergessen verkapselt. Also nimm dir mal wieder Zeit zum Weinen. Lass dich
gehen und komm zu dir.
Aber vielleicht hast du als Kind viel geweint, aus Heimweh oder Hilflossein,
oder du hast dich leer geheult beim Tod deines geliebtesten Menschen, dann
kann dein Tränenvorrat erst mal verbraucht sein. Doch Freudentränen
hast du noch? Bei deinem Lieblingsfilm kannst du auf Anhieb weinen oder beim
Schulanfang des Enkels oder beim Wiederfinden des Ringes, weil noch Zauber
in ihm wohnt; oder bei der Rettung eben im Verkehr, du hast das Rauschen
deines Engels gespürt.
Weinend bemerken wir uns als berührt, als noch nicht aus, noch nicht
zur Sache verramscht, als menschlich und noch rettbar. "Und wäre dir
auch was verloren, musst immer tun wie neugeboren", sagt Goethe, und weinend
hältst du die Dinge in Fluss, bist noch im Werden, darfst auch schwach
sein, musst nicht dauernd den Sieger geben. Weinend fühlen wir noch
geschwisterliches Erbarmen mit den Leidenden der Erde; mit einem anderen
weinen, rührt an das Glück, ein Mensch zu sein, nämlich teilen
zu können und in den neuen Morgen gemeinsam eintreten zu dürfen.