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Kolumne 20. September 2003 - <br>Es ist so leicht, die Welt für schlecht zu erklären

Traugott Giesen Kolumne 20.09.2003 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

Es ist so leicht, die Welt für schlecht zu erklären

Hätten wir mehr Hass als Liebe, mehr Feindschaft als Freundschaft, mehr Schlagen als Streicheln, dann wäre die Menschheit längst eingegangen. Traurige Denker meinen zwar, tiefes Desinteresse halte uns auseinander. Ja, unsere Lust am Weggucken und Selbstbehalten ist schon arg groß; auf hessisch klingt es so: "Wenn wi gebbe, gebbe wi gern; aber wi gebbe nischt."

Doch was dem Nächsten fehlt, ist man ihm schuldig - das weißt du auch. Es ist tiefes Menschheitsmitwissen. Du gibst das gefundene Portemonnaie zurück. Der mit im Abteil saß, ließ seinen Fotoapparat liegen - du trugst ihn ihm nach. In der Stadt, an der Ampel, ein Fremder fragt nach dem Weg - du fährst ihm vor, bis die Lage klar ist. Und im gemeinsamen Krankenzimmer, was habt ihr euch nach Kräften geholfen. Und, und.

Klar, Schnäppchen nimmt jeder gern mit, aber auf dem Parkplatz versucht einer immer wieder, sein Auto anspringen zu lassen - da guckt jeder mitleidig rüber; denkt bei sich, man müsste was machen - und du bietest an, ihn zur nächsten Werkstatt zu schleppen.

Bei uns ist viel Nächstenliebe an Institutionen weitergegeben, aber indirekt bleibt sie unsere Hilfe, die jetzt durch Fachkräfte getan wird. Wir müssen das Gefühl behalten dafür, dass wir, jeder einzelne, zuständig sind, auch wenn wir eins-eins-null oder den ADAC oder die Pflegestation alarmieren. Nächstenliebe verweigern, das schadet mir noch mehr als dem Enttäuschten. Der ist auf mich sauer. Ich aber muss mich selbst verachten. Ich weiß, ich blieb ihm schuldig, was ich selbst, in seiner Lage, mit Recht vom Nächstbesten verlangte. Und kommt dann die Notlage über mich, und ich bekomme die Hilfe, die ich schuldig blieb - wie wird meine Hartherzigkeit mich beschämen. Also, es ist besser, jetzt die kleine Mühe auf mich zu nehmen, als sonst mich hassen zu müssen. Natürlich sind wir mehr oder weniger rücksichtsvoll, Zimmerlautstärke ist relativ, aber wir alle wollen nicht gestört werden. Ja, den einen stört dies, den andern das - da ließe sich doch verhandeln, da kann man beim nachbarlichen Grillen ganze Geschäfte abschließen: Du legst dir Filzboden, ich baue eine zweite Stellfläche für die Autos aus. Ist es so schwer, etwas Frieden zu machen, Not zu lindern, den Gewalttätigen vom Opfer abzulenken? Wir müssen diese Courage bringen - wenigstens mit dem Handy den Notruf absetzen, wenn einem Gewalt getan wird. Es reichen auch drei Blicke zwischen den Männern, und man nimmt den Pöbler beiseite. Aber wer das nicht bringt, schreie wenigstens gellend "Hilfe"- es darf nur nicht still bleiben, während einer zerschlagen wird. Nein, lass dich nicht in Menschenverachtung hineintreiben, es ist so leicht, die Welt für schlecht zu erklären, und es führt zu nichts. Denk gut, denk einfach gut von dir und dem neben dir. Das Glück des andern fördern, das beschafft dir einen Triumph. Nächstenliebe ist Eigenliebe, nur anders.


 




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