Traugott Giesen Kolumne 28.12.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Die Zeit eilt, teilt, heilt
Von Als wäre es eben gewesen, so geht wieder
ein Jahr dahin, es fähret schnell, als flögen wir davon".
Eben noch Jahrtausendwende - alles schien in einen Sog geraten, verlor an
Bedeutung - am Morgen danach ging alles normal weiter. Dann der 11. September,
die stürzenden Türme, sie stürzen noch immer. Jetzt 2002,
im Nu vorbei. Ein Jahr, wie weggewischt. Sichere dir ein paar Geschichten,
Namen, Erkenntnisse. Du sahst ein Kind, einen Enkel wachsen; ein Jahr Ehe,
was hat man gelacht und bedacht, geschwiegen und gestritten; und eine Wonne,
merk sie dir. Oder man war ohne Arbeit und kann sich an kein Werk erinnern,
an dem man beteiligt war; man wartete und wartete, das Jahr aber scheint
zugebracht wie ein Geschwätz.
Die Jahresrückblicke in Zeitung und Fernsehen
hetzen von Drama zu Drama, zum Bersten gefüllt war der öffentliche
Kalender, die Bilderschnipsel fliegen vorbei - ich bin atemlos von all dem
Auf und Ab, das ich als Zeitgenosse mitging, wenn auch auf Abstand. Wie muss
es erst jenen gehen, denen viel mehr zugemutet und abverlangt war. Die Zeit
eilte. Und die Zeit teilt. Sie teilt zwischen Vorher und Nachher, Früher
und Später, Jung und Alt, sie scheidet die mit vielen Möglichkeiten
von denen, deren Zeit sichtbar abläuft. Sie nimmt, beendet, scheidet,
trennt, sie löst Bindungen, sie lässt verwittern, lässt dahingehen
und sterben. Allein, wie das Sterben eines geliebten Menschen anrührt,
macht die Wucht von Zeit deutlich. Zeit ist doch zugeteilt, ist das Wichtigste
Gut unseres Lebens. Und mit wem durftest du, musstest du sie teilen?
Das Geheimnis des Glücks ist die
Freiheit, deren Geheimnis aber ist der Mut" (Perikles). Wozu wünschst
du dir Mut, was willst du endlich sagen, was tun und entscheiden? Zeit haben
heißt nichts anderes, als keine Zeit für alles zu haben. Wir
dürfen noch an unserem Drehbuch mitschreiben, die Zeit teilt vor allem
Möglichkeiten zu. Ob wir sie vorbeilassen oder zupacken, was wir an
Spielraum haben, sollten wir nutzen; auch um wieder mehr Bürgersinn
zu entwickeln. Die Zeit eilt, sie teilt zu, teilt auch ab. Und die Zeit heilt.
Ein Baum verlor seinen Hauptstamm; es blieben Zweige. Der Lauf der Zeit
rückt das Verlorene aus dem Mittelpunkt, ganz langsam richten sich die
Zweige auf, im Laufe der Jahrzehnte wird eine neue Mitte, eine andere Krone.
Der verwitwete Mensch wird noch mal ein anderer, eigener Mensch, das
Verlorengegangensein des Verstorbenen kann sich vergolden zu einem
Heimgefundenhaben: der, die Verlassene lernt, sich wieder zu finden und
vielleicht auch neu sich finden zu lassen. Zeit vermag, die Liebe wiederzubringen
in neuen Kleidern. Zeit heilt allmählich, manchmal auch plötzlich
- spannend, schmerzlich, wunderbar, wie das Lebendige auf einen einstürzt
oder sich langsam entzieht. Nur Dank für ein großes Jahr Zeit
und Gebet um Chancen und Mut, Gestaltungslust und Selbstzügelung.