Traugott Giesen Kolumne 16.11.2002 aus "Die
Welt" Ausgabe Hamburg
Freude im November
Ja, die Tage werden kürzer; aber dafür
die Abende länger, und was kann man darin Wunderbares anstellen.
Die Bäume haben ihre Blätter verloren,
doch das schafft mehr Sicht. Kein zusätzlicher freier Tag zwar im November
nach Streichung des Bußtages - wer war groß genug für diese
Entscheidung? - dafür jedoch kommt Weihnachten mit Macht. Ja, Besuche
auf dem Friedhof sind dran, wo spürt man sonst: Hurra, wir sind noch
da! Kein Flanieren mehr unter Linden, dafür lass vernachlässigte
Freundschaft aufleben. Keine Würstchen vom Grill und leicht
herübergebetene Nachbarn, aber konzentrierte Gespräche bei gediegenem
Mahl, mal. Kein Frühkonzert, aber wieder einen Gottesdienst mitfeiern.
Kein Bad im Freien, aber das Hallenbad mit den herrlichen Massagestrahlen
neu entdecken. Kein Sitzen im Garten, aber mal wieder im Museum Schönes
sehen, das in die Seele dringt. Kein leichter Sonnenteint, doch ein verzaubernder
Theaterabend, oder mal wieder ein Roman, als hätte man noch ein paralleles
Leben.
Weniger Geld, aber nicht zwingend auch weniger
Lebensqualität. Endlich den Sprung schaffen, die zu große Wohnung
aufzugeben und sich kleiner zu setzen. Oder einem Studenten, einer Studentin
eine Bude einräumen - es könnte der Anfang einer wunderbaren
Freundschaft werden. Arbeitslos sein ist bitter. Und doch vielleicht jetzt
das abgebrochene Studium wieder aufnehmen oder das Hobby wieder funkeln lassen
oder endlich den Schrebergarten erwerben oder das Ehrenamt antreten.
Vielleicht weniger Sicherheit, aber mehr Chancen,
du selbst zu werden; leg doch zu an Kompetenz und Weisheit, wer weiß.
Weniger Farben draußen, doch dein Inneres entdecke als farbenfroh -
mit jedem Mitmensch bist du selbst ein anderer, mit einem geliebten Menschen
legst du neue Landstriche in deiner Seele an. Allein ein Kind in deiner
Nähe heranwachsen sehen, lässt dich dein Kindsein wieder holen
und Mängel wettmachen. Deine Erlebnisbeschränkung
überwinde.
Mensch, werde pessimismusresistent, widerstehe
niederdrückenden Nachrichten mit freundlichem Gesicht. Wer klagt, den
lade auf einen Kaffee, und lass ihn klagen, er braucht keinen Rat, er braucht
ein Ohr; bald hast du ihm ein Stück weitergeholfen. Und kräftezehrende
Illusionen baue ab; anerkenne, was ist. Will keine Benebelung mehr; gerade
wenn es draußen fahl ist, kann dir innere Erleuchtung werden.
Wir sind in schwierigen Zeiten, mach deine Sache
gut, den Rest überlass den Zuständigen. "Woran mir nichts gelegen,
da unterlasse ich alles Nachgrübeln" - so der große Goethe. Versag
dir keine Lust. Dass sie nicht mit ander Leuts Leid erkauft sein darf, versteht
sich. Küss die Freude, wie sie dir zufliegt, setz dich Überraschungen
aus. Wir brauchen wohl das Leben nicht verstehen, sondern es reicht, uns
darin zurechtzufinden - die Nase in Richtung Freude. Übrigens, Kerzenschein
und Blumen tun im November besonders gut.