Traugott Giesen Kolumne 26.10.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Training für den Geist
Gesundheit ist nicht alles - es kommt drauf
an, was man mit ihr macht. Mit Krankheit ist nicht alles nichts; es kommt
drauf an, wie viel Spielraum bleibt, man selbst zu sein. Aber es ist schon
gut, dass wir vorbeugen und unseren Körper in Form halten. Und unseren
Geist dazu. Was nützt der schönste Körper, wenn des Inhabers
Kopf leer ist. Dann lieber ein Philosoph mit Buckel und dünnen
Beinen.
Aber Körper lassen sich leichter trainieren
als der Geist. Vor allem sieht man dem Körper Wohlergehen an auf dem
ersten Blick, während zum Bemerken von Geist ja immer zwei gehören.
Vielleicht liegen Fitness und Wellness darum so im Trend, weil sie uns als
effektive Macher ausweisen. Während ja die Überschwänglichen,
die mit viel Körper einhergehen, und Sport für Zeitverschwendung
halten, mit leichter Missbilligung leben müssen. Schön, wenn sie
lächelnd darüber hinwegsehen könnten. Sie können es wohl,
wenn sie gern sie selbst sind, genau so, wie sie sind.
Zum Selbstbestimmungsrecht gehört, dass
jeder das Recht auf Glück hat nach seinem Geschmack und bis zum Zaun
des Nachbarn. Jeder darf seine Freude fördern, wie er will, wenn er
nicht mit den Gesetzen im Konflikt gerät und möglichst nicht anderen
Kosten bereitet. Schönseinwollen ist eins der unschädlichsten Begehren
überhaupt, ein schmucker Körper ist sogar eine Zierde, also ein
soziales Plus.
Die Arbeit, die ein ansehnlicher Körper
macht, kann man nicht anderen überlassen. Man muss selbst die Gewichte
stemmen und die Pfunde abhungern - die lassen sich nicht abwälzen. Man
kann den Menschen nur zu ihrer Willensstärke gratulieren, die nach Jahren
üppigen Speisens auf einmal mit der Hälfte genug haben oder die
das Rauchen einstellen. Auch die Jogger und Kletterer, die Walker und
Tänzer, die eisern ihre Stunde täglich auf Trab sind, bewundere
ich. Aber die rigorose Diät, die Wasserkuren, die schindende Massage
scheint mir bedrückend, wie die Geißler, die sich stundenlang
kasteiten mit Schlägen auf den blutigen Rücken. Damals wollten
sie büßen, wollten die Sünde der Welt abtragen, wollten ihr
Seelenheil im Himmel sicherstellen. Was reitet die heutigen Gesundheitsfanatiker?
Sie schinden sich auch für eine bessere Zukunft. Sie scheinen auch
religiös getrieben - nur dass sie Gesundheit für ihr Ein und Alles
halten und ihre Diätplan-Übertretungen für Sünde. Die
Gesundheitswelle geht ja Hand in Hand mit einem Machbarkeitswahn in der Medizin.
Müssen wir das Leben bis zum Letzten auspressen? Können wir nicht
mal das Leben segnen und hinübergehen, ohne Apparate, die den dünnen
Faden noch immer weiterziehen? Der Tod ist doch keine Schmach, darum auch
ist Altern keine Schande. Was müssen wir Falten glattzementieren und
Runzeln abhobeln? Gut ist es, Schmerzen zu lindern, kaputte Hüften sind
nicht mehr Schicksal, Leben soll keine Strafe sein.
Darum auch: Lasst uns noch ein bisschen auf
uns achten, lasst uns noch ein bisschen uns schön machen, aber nicht
verrückt.