Traugott Giesen Kolumne 17.08.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Das ist unsere Sinflut
Wir glauben nicht mehr an einen Gott, der Sintfluten
verhängt. Das hat einen tiefen Grund. Der ist wunderbar, ist die Rettung:
Unser Gott weiß: "Unser Dichten und Trachten ist böse von Jugend
auf." Und eben darum, so beschreibt es die Bibel, will Gott nicht aufhören
lassen: "Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht"
- will Leben und Menschen gedeihen lassen. Nie soll alles ersaufen. Die einer
Riesenflut Entronnenen sahen als Pfand den Regenbogen in die Wolken
gesetzt.
Inzwischen hat die Menschheit viele Katastrophen
über sich ergehen lassen müssen, und einige rührten an die
Wurzel des Lebens. Millionen Jahre lang war es sowieso völlig fraglich,
ob die Menschheit als Projekt des Lebens überhaupt durchkomme. Die 20
000 Jahre alten Felszeichnungen von Lascaux zeigen die riesigen Wisente und
Auerochsen - die zu besiegen größte Dankbarkeit und Demut gegen
den Himmel wert waren.
Heute ist das Leben wieder bedroht und zwar
aus zu viel Menschenmacht. Die Selbstverständlichkeit einer haltbaren
Menschheit ist uns zertrümmert. Auschwitz und Hiroshima, Bopahl und
New York, 11. September sind die Daten extremer Gefahr, die von uns ausgeht.
Hinzu kommen die Naturkatastrophen, die sich häufen. Und wir dachten,
das passiere nur weit weg, in Bangladesch oder bei Erdbeben in der Türkei
oder Kalifornien. Nun fließen hier Flüsse durch Bahnhöfe,
Menschen und Vieh ertrinken, Häuser, Felder, Gärten werden weggerissen,
Kunst löst sich auf, Lebenswerke von Menschen, ihre Häuser, Wohnungen
sind verloren, viele haben nicht mehr als ihre Haut gerettet.
Und wenn das Wasser mal abfließt, ist
Dreck und Zerstörtes überall.
Nein, kein Gott hat gestraft und die Fluten
den Menschen auf den Hals geschickt. Aber "er gibt die Menschen dahin an
ihr Tun" (Römerbrief 1). "Womit jemand sündigt, damit wird er auch
bestraft" (Weisheit 11,16). Wir müssen ausfressen, was wir eingebrockt
haben. Das ist die Regel eines erwachsen gewordenen Glaubens: Wir dürfen
Gott nicht unsere Pleiten anhängen und die Siege uns an den Hut heften.
Die Güte Gottes ist, dass er uns einspannt in sein Schöpfungswerk
und sich mit beschädigen lässt von uns - aber uns auch mitreißt
in heilende Zukunft.
Glauben wir an einen rettenden Zusammenhang,
sehen wir uns einer Schicksalsgemeinschaft zugehörig, dann ist das unsere
Flut, egal, wo wir gerade wohnen. Wir sind fast mit ertrunken, haben mit
den Müll im Wohnzimmer. Und es ist reiner Zufall, dass wir jetzt nur
mitzahlen brauchen; reiner Zufall, dass wir einige Meter höher wohnen
oder einige Kilometer weiter weg. Wir müssen genauso mit arbeiten an
der Wiederherstellung, wie die in Dresden und Prag.
Es ist unsere gemeinsame Schuld, die tropische
Zustände jetzt zu uns hinkehrt. Wie genau die Zusammenhänge sind,
können wir wegen unserer kleinen Wissensfrequenz noch nicht durchschauen.
Aber jedes Stehen an der Fußgängerampel im stinkenden Autoqualm
macht uns doch klar, dass Mutter Erde leidet. Darum muss ein "Notopfer Wasser"
organisiert werden, das uns alle mitzahlen lässt. Keiner ist schuldlos.
Keiner hat das Recht, die im Schlamm allein zu lassen.