Traugott Giesen Kolumne 10.08.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Reden ist Gold
Schweigen war ratsam, früher, als ein falsches
Wort den Kopf kosten konnte. "Arme verschränken, Finger auf den Mund",
war güldenes Erziehungskommando. "Wer seine Zunge hütet, bewahrt
sein Leben", sagt die Bibel, aber bewahrt auch das Lob auf ein gutes
Gespräch: "Eine gelinde Zunge zerbricht Knochen." Schon wahr, wir alle
haben heilende Gespräche in Erinnerung und täten gern mal wieder
innig reden, ohne auf die Uhr zu schauen und ohne Handydudeln. Doch es scheint,
wir sind kraftloser geworden, lustvoll miteinander zu reden.
Das darf doch nicht wahr sein, dass
Ehegefährten kaum mehr als zehn Minuten täglich miteinander reden.
Aber wann reden Kollegen wirklich? Ärzte tauschen Für und Wider
ihrer diagnostischen Wahrnehmung aus, aber wann reden sie ungesponsert noch
über Leben und Tod? Pastoren reden über Mitarbeiterqualifizierung,
aber wann trauen sie sich, eine ihrer Predigten zu bereden? Zielorientiert
kämpft man sich in Projektsitzungen nach vorn. Doch wann tauschen wir
uns noch aus über uns persönlich? Gut, das Klein-Klein in der Kantine,
wenigstens das gelingt noch zwölf Minuten lang.
Die Seelsorgerinnen, die im Krankenhaus von
Bett zu Bett gehen, bekommen mehr zu hören als die eigenen Kinder, die
zu Besuch kommen "mit der Uhr im Herzen" (Musil). Es ist ja nicht so, dass
wir nichts auf der Seele hätten, aber wann sind wir mal in Ruhe für
einander da und können reden, reden über Ängste und Versagen,
über mein, dein Gottvertrauen und die Zweifel? Der Glaube ist zum letzten
Tabu zwischen uns geworden, dabei kann ihm so viel Lebensmut entströmen,
wenn wir uns nur getrauten. Sind wir höflicher geworden und verletzlicher?
Wollen wir nicht belästigen, uns auch nicht schwach zeigen? "Bittet,
suchet, klopfet an", sagt Jesus und verheißt Gehör die Fülle.
Ich will den Freund anrufen, heute, ich weiß er freut sich. Ich freute
mich auch, wenn er unverhofft sich meldete von irgendwo und ein Zeichen gab,
dass man einander noch auf der Liste hat. Auch einem sagen, was mich an ihm
beschwert, auch Unannehmlichkeit in Kauf nehmen. Was gesagt sein muss, das
sag! Wir dürfen das miteinander Reden nicht dem Fernsehen überlassen.
Talks sind auch eine Art von Gespräch, besser als nichts, aber da
läuft's doch nach der Regel: Das Wort ergreifen und so lange wie
möglich behalten. Und deine Meinung ist auch bedenkenswert und du hast
auch Lust, dass man dir zuhört; auch du hast was zu sagen.
Wir wissen, wir sollten wieder mal zum Geburtstag
einladen, sollten zum Elternabend in die Schule und hinterher noch auf eine
Runde die andern mitschnacken; sollten den lädierten Freund besuchen,
beim Nachbarn verweilen. "Pastor, keine Zeit?", sagte die alte Dame, "setz
dich hin, dann hast du Zeit." Mit einander reden hat etwas Rettendes. Ja,
"kommt, reden wir zusammen, wer redet ist nicht tot, es züngeln doch
die Flammen schon sehr um unsere Not". (Gottfried Benn).