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Traugott Giesen Kolumne 13.07.2002 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

In die Talkshow ausgewandert

Nicht zu fassen, findet mancher Zeitgenosse, wie Menschen vor Millionenpublikum ihr Seelenleid nach außen schütten. Paare, zerfallene oder verklumpte, schreien ihre Beleidigungen heraus, schildern ihre Wunden, stehen öffentlich zu Schuld und Hass und flehen um Geliebtsein. Der Talkmaster lichtet in Sekunden Schicht um Schicht der Tragödien, sucht einen Hauch roten Faden, sucht die Wurzeln der Entzweiung in der verschiedenen Herkunft beider, deckt die frühen Risse auf. Es gibt seelsorgerliche Gesprächsführer und gnadenlose Scharfrichter, es gibt Therapeuten und Auszieher vom Dienst. Und jeder bedient sein Publikum: Die gern zuschauen, wie andere sich ausziehen, finden die, die gern unter Aufsicht sich entblößen. Andere hätten zu gern einen warmen Lebenskreis, und finden für die kurze Zeit einen mächtigen Schoß zum Hineinheulen. Die Seelentröster haben manchmal Glück - die Partner können genügend Dynamik aufbauen, das Publikum geht mit, und bietet sich als großes Reinigungsbad an, manchmal sind alle herrischen Allüren nur Krampf und zurück bleiben ganze Haufen Elend. Während die Darsteller ihres Leids das Entsetzen erreicht, sind die Menschen an den Bildschirmen längst weiter. Nur die Verwandtschaft, die Nachbarn, sie jöken sich die Hucke voll, da bleibt man noch lange gebrandmarkt.

Der tiefere Grund, sich bis in seine Abgründe darzubieten, ist Religion. Wir wissen uns vor einer letzen Instanz, die uns gnädig ist. Die Fernsehgemeinde mit dem guten oder strengen Hirten-Moderator ist ein Zipfel dieser Gottheit, die uns sowieso kennt und liebt, gerade, auch wenn wir verrückt sind. Früher war die Kirche das Haus Gottes auf Erden, dort sagte man dem Priester seine Verfehlungen ins Ohr und der wusste die Dinge mit Ermahnung und lässlichen Strafen beim Herrn gerade zu rücken. Er war Brückenbauer für die verirrte Seele. Heute glauben wir das Auge Gottes in der Kamera, die Hingabe und Buße ist öffentlich, darum wirksamer, man ruft ja die Menschheit zum Zeugen für seinen Besserungswillen auf. Die ganze Gemeinde zittert mit, ob das Bekenntnis und die Reue und die Buße glaubwürdig scheinen. Und mancher sieht sein eigenes Schicksal gespiegelt, eine Umkehr kann auch ihm geschenkt werden - "der Heilige Geist weht, wo er will".

Warum die öffentlichen Beichten so beliebt sind, ist klar, wir haben alle Dreck am Stecken, haben alle was zu beichten. Und die tun es. Mag Einsamkeit dabei sein, Irrsinn, Spreizlust - die Prominenten, die täglich ihre Bekenntnisse und Schuldzuweisungen vor der Kamera ausschütten und anderer Leute Beichten verlangen, sind weniger in der Wahrheit, als ein Muttchen, das die zärtliche Liebe zu ihrem Hundchen gesteht. Glotzsucht und Schadenfreude sind eine Beichte wert, aber Neugier ist besser als Todsein, und andern zuschauen bei deren relativ freiwilligem Auftritt, ist doch noch etwas Teilnahme.


 




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