Traugott Giesen Kolumne 29.06.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Fußball als "Lobe den Herrn"
Jetzt kämpfen die Zauberer gegen die Arbeiter,
die Künstler gegen die Malocher. Das Maß der Überraschungen
ist voll - die deutschen Schwerarbeiter tanzen mit den Ball-Ballerinen aus
Brasilien das Finale. Und auch, wer um das Kraftspiel Fußball eher
einen Bogen macht, lieber den Reitern zuschaut oder den Autorennern - jetzt
ist er in den Bann miteinbezogen.
Es ist wie ein Rausch, wir nehmen teil an einem
großen Fest. Und wir spüren uns wieder mal als Zugehörige
eines Volkes, bangen mit und freuen uns mit, leiden mit. Und wie viel
Nachbarschaft ist anlässlich dieses Ereignisses neu belebt, Familien
und Verwandte schaffen wieder mal zwei und mehr gemeinsame Stunden friedlich
und fröhlich zusammen - das ist ein Geschenk.
Natürlich wird auch Rivalität zwischen
den Nationen angeheizt. Manche Schlagzeilen haben noch Klangfarben von
Kriegserklärungen. Trug nicht ein Moderator eines Juxsenders kürzlich
ein T-Shirt mit der Aufschrift "Ohne Holland"? - Das trieft doch nur vor
Schadenfreude. Und sicher sähen die anderen Länder lieber ihre
Mannschaft an Deutschlands Stelle. Und doch ist es ein friedliches
Kräftemessen, ist Spiel, in dem die bösen Fouls selten blieben.
Und die Trainer der Verlierer gratulieren den Sieg-Trainern und die Mannschaften
tauschen noch die Trikots.
Gar zur Rettung können diese Spiele werden
für Menschen, die den Fußballern den großen Kraftakt abschauen
für ihr Eigenes, die jetzt sich auch ins Zeug legen für ihr Problem.
Ganz sicher strahlt eine große Leistung aus. Wie Katastrophen den
Pulsschlag der Menschheit lähmen, so kann umgekehrt das große
Fußballfest Freude in die Menschheit pumpen. Wie nationale Trauer ein
Stück Buße für Überheblichkeit sein kann, so kann der
nationale Freudentaumel mitreißen zu neuem Elan, schwere Sachen doch
jetzt anzupacken.
Auch persönlich kann es einen auf einer
Welle mittragen, dass man noch mal loslegt, das Schicksal noch mal anpackt.
"Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott" - steht zwar nicht in der Bibel, aber
unser gutes Mühen arbeitet dem Segen Gottes in die Hände. Talente
nutzen und durch Übung mehren, das ist Christenpflicht. Wo kann man
schon mal zweiundzwanzig Hochbegabten zuschauen, wie sie durch Fleiß
und Teamgeist und Gnade ein Ballfeuerwerk loslassen. Und wohl eine Milliarde
Menschen erlebt an den Fernsehern das im annähernd selben
Augenblick.
In dieser Zeit sind sie alle gern Mensch, sind
gern in ihrem Körper, genießen sich als Teil von Menschheitsfamilie;
sehen die Spieler als Brüder, die es weit gebracht haben seit der Kickerei
aus Kindertagen. Und ist es nicht auch ein Vorgeschmack auf eine Zeit, da
wir alle Unterschiede schätzen lernen als Bruchstücke eines Schatzes,
und alle Menschen als Mitglieder eines Leibes? Wieder wird "Freude, schöner
Götterfunke" erklingen, mit dem Versprechen: "Alle Menschen werden
(Schwestern und) Brüder." Nehmen wir das WM-Endspiel als weltlichen
Gottesdienst, dankbar und lustvoll, ein Vorgeschmack auf Frieden.