Traugott Giesen Kolumne 22.06.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Dank den Menschen jüdischen Glaubens,
jüdischer Herkunft
Ein mörderischer Wahn hatte Deutschland
unter Hitler besessen gemacht. Menschen jüdischen Glaubens oder
jüdischer Herkunft wurden in Deutschland und in den Ländern unter
deutscher Besatzung ermordet. Sechs Millionen Menschen wurden umgebracht,
weil der Irrsinn uns befallen hatte, was jüdisch sei, sei Gift für
Deutschland.
Inzwischen sind wir hier von der Pest der
nationalsozialistischen Raserei gründlich geheilt. Um so ekelhafter,
wenn weiter und wieder Deutsche antisemitische Töne spucken.
Ich kann nur den Menschen jüdischen Glaubens
oder jüdischer Herkunft danken, dass sie wieder oder immer noch Menschen
mit deutschem Pass bleiben und sich zur deutschen Bevölkerung zählen,
und wir sie zur deutschen Bevölkerung zählen dürfen. Mir ist
als Christ immer gegenwärtig, dass wir abgrundtief böse gegen die
Brüder und Schwestern Jesu verfuhren, wir als Kain uns erhoben wider
unsern Bruder Abel; und immer noch gefragt werden: Wo ist dein Bruder? Und
antworten wir immer noch: "Was soll ich meines Bruders Hüter sein?"
Juden mögen so etwas wie eine Art
weitverzweigter Familie sein (E. Canetti). Treue gegen Moses Gesetz (zu dem
auch die Zehn Gebote gehören) und Verfolgungsgedächtnis und ein
Traum von der Heilung des Kosmos gehören zu ihrem überindividuellen
Seelenschatz und bilden einen bleibenden Quellgrund der Kultur. "Warum sagst
Du nicht, dass du Jude bist?", wurde einer gefragt. Und er sagte: "Ich will
nicht protzen."
Es muss möglich sein, in unserem Land als
Jude zu leben wie als Katholik oder Protestant oder als Moslem oder als Atheist;
oder als Mensch, dessen Vorfahren eingewandert sind aus Norwegen oder Frankreich
oder Ungarn. Und man wird nicht angesprochen: aha, Katholik; aha, Atheist,
aha aus Ungarn, wird nicht hingestellt als typisch protestantisch oder typisch
nordisch, wird nicht auf Abweichungen hin beargwöhnt, muss nicht wieder
und wieder für andere Menschen gerade stehen. Lassen wir doch einander
leben, einen jeden nach seiner Art, und glücklich sein über den
Reichtum der verschiedenen Menschen, ohne dass wir einen in Sippenhaft nehmen
für andere.
Nur wenige Deutsche kennen einen jüdischen
Mitmenschen persönlich und können ihm Freundschaft anbieten, sich
üben in der Kunst, zugeneigt zu sein dem Verschiedenen und zu schützen
dessen Eigentümliches. Nur 30.000 deutschstämmige Juden und rund
70 000 Juden osteuropäischer Herkunft haben hier Heimat. Lasst uns
dafür sorgen, dass sie hier in Freundesland sind. Und zwar damit, dass
wir mit "Halt, stopp, so nicht!" dem entgegentreten, der Antijüdisches,
Fremdenfeindliches ausstreut. Es sind doch unsere Juden, auf die wir stolz
sein können, auch weil sie nach außen dafür bürgen,
dass diese auf den Trümmern der Barbarei erblühte Republik wieder
menschlich ist. Nicht ein Jude soll mehr Angst haben hier, nie mehr.