Traugott Giesen Kolumne 18.05.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Pfingsten ist dringend nötig
Pfingsten singt es in allen Kirchen: "O komm
du Geist der Wahrheit und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit,
verbanne Trug und Schein. Gieß aus dein heilig Feuer, rühr Herz
und Lippen an..." So geht es sieben starke Strophen lang. Klar, dass wir
Heiligen Geist brauchen, den Stoff, der das Verstehen schafft, der uns in
alle Wahrheit leitet. Wir müssen diese Kraft auch wollen; es ist die
Kraft, die uns mitempfinden lässt, "die nicht mit einem unbedeutenden
Spruch kommt, wenn ich aus dem Herzen spreche" (Goethe).
Wahrheit ist Sagen, Wissen, Beschweigen, was
ist. Das ist was anderes als Vaters Befehl: "Sag die Wahrheit!" - da geht
es um Tatsachen: "Hast du das Geld genommen oder nicht?" Doch als der Lehrer
höhnisch fragte: "Sag mal Alex, hat dein Vater heute Morgen wieder betrunken
im Hauseingang gelegen?" Da ging es um Ehre und Achtung und Kindesliebe.
Und Alex sagte cool: "Nicht, dass ich wüsste", und der Lehrer verstand,
dass der Junge mehr in der Wahrheit der Liebe war, als er mit seinem entlarvenden
Fragen. Die Wahrheit ist "der Glanz des Notwendigen" (Dávila). Der
Junge merkt, dass sein Vater Schutz braucht vor Verachtung. Was notwendig
ist, geht aus der Wirklichkeit hervor, wenn man sie als Stoff Gottes nimmt,
in dem das Heilige gerade hier und jetzt da ist. Nehme ich die Realität
als Erscheinung Gottes, nehme ich sie als Anrede Gottes an mich. Und wie
ich das Reale nutze und was ich aus der Realität mache, ist meine Antwort
an Gott. Ob eine Antwort in der Wahrheit ist, kommt darauf an, ob ich vom
Glanz des Notwendigen erleuchtet werde; oder durch Meinungen, wie etwas zu
sein habe, an die Kandare genommen bin. In der Wahrheit tue ich, was ich
wirklich tun will, und sage, was von meinem Tun gedeckt ist, und tue, was
ich sage.
Aber die Wahrheit ist kein Kristall, den wir
in die Tasche stecken und haben können, sondern eine Flüssigkeit,
die uns umfängt (Musil), die uns trägt, sie ist ein
Zugehörwissen. Habe ich das nicht, sondern sehe mich in gnadenlosen
Lebenskampf verstrickt, dann ist das nächste Stück Brot, die
nächste Rate meine enge Wahrheit.
Es gibt verschiedene Einschätzungen von
dem, was ist. Das Leben ist so sonderbar, so vieldeutig, so
auslegungsbedürftig wie ein biblischer Text. Und jede Ansicht gibt nur
einen Blick auf die Wirklichkeit wieder. Man kann sogar sagen: "Jeder hat
seine Wahrheit, aber muss wissen, dass sie nur ein Splitter ist. Wenn wir
als Paar, als Team, als Gruppe, als Nation einig werden wollen, müssen
wir unsere Teilwahrheiten zusammenlegen. Und das zu können, ist Pfingsten.
Letztlich ist es wohl so: "Wir sehen hier wie in einem beschlagenen Spiegel
nur ein dunkles Bild, dann aber werden wir sehen, wie wir von immer her erkannt
und gemeint sind", ein riesiges Wort des Paulus. Möge das Licht der
Liebe nach und nach über dem Ganzen aufgehen. Bis dahin können
wir schon mal uns daran halten: Die Liebe verträgt Wahrheit.