Traugott Giesen Kolumne 29.04.2002 aus "Die
Welt" Ausgabe Hamburg
Der Wahnsinn ist ganz nah - aber wir müssen
weiter
Siebzehn Menschen sind umgebracht, sind aus
diesem Leben gelöscht. Ein Mensch wurde wahnsinnig, sah sich verletzt,
beleidigt, ausgestoßen und vollstreckt dies Urteil bis zur bitteren
Neige, indem er 16 Menschen mit in den Tod reißt. Es ist ein Jammer,
ein Elend, eine große Trauer fällt auf uns. Wenn wir nicht weinen
um die Menschen, die in einem Nu ermordet wurden, wenn wir nur die Achseln
zuckten, was ist denn dann noch der Rede und den Schmerz wert.
Wie soll man denn Lehrer sein, wenn man von
Schülern weiß, die vor Schulbeginn schon übelste Schimpfworte,
wenn nicht Fußtritte der selbstzerstörerischen Väter abbekommen
haben. Und wie das Selbstbewusstsein der Kinder niedergedrückt wird,
von verarmten, alleingelassenen, überforderten Müttern. Oder der
Verwöhnte stößt endlich auf ein entschiedenes Nein, aber
will sich die Grenzen nicht aufzeigen lassen, der Entgegentretende wird
weggewischt. Depressiv oder aggressiv, entleert oder geladen, kommen manche
Kinder zur Schule.
Montagmorgen ist es am schlimmsten, wenn sie
ohne Verständnis und Wärme das ganze Wochenende sich selbst ausgesetzt
waren. Die Pädagogen müssten alle Engel sein, woher nehmen sie
nur die Kraft und Menschenliebe, um zu bestehen? Sie müssen viel Gewalt
auffangen und Böses sich an den Kopf werfen lassen - zu Gerangel und
körperlichen Attacken ist es nicht weit. Dass jetzt 13 Lehrer hingerichtet
wurden von einem Wahnsinnigen, rückt auch die enorme Mühsal des
Lehrerberufs vor Augen. Kein anderer Berufsstand büßt für
die Sünden der ganzen Gesellschaft an den kommenden Generationen.
Dies Auslöschen von Menschenleben - eben
mal so - ist so fürchterlich. Jeder war ein einzigartiger Mensch, mit
seinen Vorlieben und seiner Lebensart, seiner Sorge, seinen Nächsten.
Wie kann ein Mensch nur Menschenleben auslöschen? Für wie wertlos
muss man sich selbst halten, wenn man sich so widerruft und die eigene
Wertlosigkeit noch verhundertfacht durch Entwerten anderer Menschen. Hätte
er mit Gott gesprochen, jedenfalls in Richtung Ewiggültiges - er hätte
anders mit seinem Schmerz hinkommen können. Abgehen müssen von
der Schule wegen schlechter Leistungen, die Komplikation bei der Operation,
kinderlos bleiben wegen körperlicher Anomalie, Scheidung der geliebten
Eltern, Verlassenwerden, keine Arbeitsstelle finden - wie viel Niederlagen
fügt das Leben zu? Wir müssen lernen, auch zu verlieren und doch
ein neues Spiel zu wagen. Wir dürfen uns in einem guten Spiel wissen.
Kein Versagen und keine Absage bricht doch den Stab über die ganze Person.
Hat ihm keiner gesagt, dass unsere Ehre höheren Orts garantiert wird;
auch wenn Menschen einen verachten, bleibt ein Schutzmantel des Glaubens,
bleibt ein neuer Tag.
Ach komm, Schöpfer, Heiliger Geist, erbarme
Dich der Verzweifelten, der Verlassenen, der Leergeweinten. Und Dank für
die Nacht. Und morgen gib Kraft zum Weitermachen mit dem Lieben. Gegen den
Tod hilft nur die Liebe. Die uns starben, sollen vom Geheimnis der Welt
aufgenommen sein. Sie sollen erstattet bekommen alles, was an ihnen
versäumt blieb. Und wir Zurückbleibenden mögen uns aneinander
festhalten, uns dieses Augenblicks vergewissern. Und mit Tränen in den
Augen sagen: Gut zu leben; gut, dass du da bist.