Traugott Giesen Kolumne 16.03.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Religion gehört zum
Menschsein
Wir im religionsmüden Europa haben gestaunt,
wie die 11.-September-Katastophe von den Amerikanern mit Frömmigkeit
und Patriotismus verkraftet wurde. Wer hat sie nicht bewundert, die
Hinterbliebenen und die ganze Nation, um die Inbrunst, die sie aus Gebet
und frommen Liedern sogen. Wir waren doch per Fernsehen mitbewegt von den
Trauerfeiern. Angeleitet von den Priestern und Gurus, den Mullahs und
Mönchen, den Pastorinnen und Kantoren, klagten und beteten sie, ein
jeder in seiner Sprache und Ordnung. Selten sah man soviel gelebte
Frömmigkeit unter modernen Menschen. Religion ist nicht verschwunden.
Sie ist da wie Kunst, wie Sport.
Ja, in Europa lässt kirchlich gebundene
Religion nach. Aber, das ist global gesehen eher die Ausnahme. Alle
Weltreligionen haben ihre Lebenskraft beibehalten oder noch gesteigert.
Albert Einstein sagte mal: Der Gehalt der Religion
sollte weder auf der Autorität menschlicher Organisationen noch auf
der von Büchern ruhen; Religion soll ihre Kraft nehmen aus einer vertieften
Auffassung der erfahrenen Welt. Und Gott, Heiliges, Ewiges, Gutes sprießt
aus erfahrener Welt; die Wirklichkeit ist gotteshaltig. Die Verantwortung
eines Ich für ein Du, die Liebe, hat doch Wurzeln des Himmels. Nicht
das Standesamt begründet Ehe sondern der Glaube, wir sind einander
anvertraut. Kinder haben wir doch nicht auf eigene Faust, sondern wissen
sie als Gaben und Aufgaben des Lebens. Arbeit ist doch auch
Mitgestaltendürfen der Schöpfung, wir sind nicht nur Verbraucher,
das wollen wir doch hoffen. Und Kunst - will sie nicht retten, auch durch
Aufwühlen? Ja - sie will zeigen, was vorgeht mit uns unverbesserlichen,
sehnsüchtigen Heilungsbedürftigen. Welcher Schlager von Klasse
wäre nicht letztendlich Gebet? Und die UNO ist doch Tempel einer
geschwisterlichen Welt, gestützt von der biblischen Hoffnung, dass endlich
die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden.
Angesichts der Spendenskandale und Schmiergelder
sprach einer von der "Moralbrache": gut und böse aufgelöst zu geschickt
und ungeschickt, fit und blöd. Doch wenn die Gotteskindschaft und
Gottesebenbildlichkeit zerbröselte, wäre alles nur eine Frage des
Preises. Das kann keiner wollen, auch die Schurken nicht. Auch sie beten,
dass ihre Kinder bessere Menschen werden. Und die Machtlosigkeit meines Willens
und das Scheitern der eigenen Werke macht doch Gnade dringlich. Ich muss
doch an die Güte Gottes oder die Fehlerfreundlichkeit des Lebendigen
glauben, sonst wäre es zum Verrücktwerden. Die vertiefte Auffassung
der erfahrenen Welt macht ehrfürchtig gegen die Mitkreatur, macht weitherzig
zum Mitmenschen, denn ich wünsche mir ja seine Toleranz auch, macht
dankbar, hier sein und Ich sein zu dürfen. Wir brauchen Gott als letzte
Adresse für Dank und Klage und Instanz für Gewissen. Das weist
uns Menschen den Platz an: zu klein für einen Gott, zu groß für
Schrott.